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Die da kommen

Die da kommen

Titel: Die da kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Jensen
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bewachen, bis Hilfe da ist. Stephanie wählt eine Nummer und geht ins Wohnzimmer.
    »Komm runter, Freddy!«, rufe ich. Er muss in sein Zimmer gegangen sein. Ich rufe noch einmal, und er taucht wieder auf. Er sieht sehr klein aus. Sein Gesicht ist gerötet und rosig. Ich frage mich, ob er Fieber hat. Könnte ein Fieber die Geschehnisse erklären? Seine Tat? »Komm runter. Du musst über deine Mama hinwegsteigen. Wir rufen einen Krankenwagen für sie. Ich mache dir Spaghetti. In der Küche.«
    Er zögert und sagt mit leiser Stimme: »Okay.«
    Er wirkt orientierungslos, als er vorsichtig an seiner Mutter vorbeigeht. Er bleibt nicht stehen, um sie anzuschauen, und dreht sich auch nicht zu ihr um. Er keucht ein bisschen, als er unten an der Treppe ankommt. Er schaut hin und her, als wäre ihm die Umgebung fremd.
    »Hier entlang.« Ich lege ihm die Hände auf die Schultern und schiebe ihn in die Küche, wo eine Nachricht den Strauss in meiner Jackentasche unterbricht: Sie sind Nummer neunundzwanzig in der Warteschleife. Ich überschlage im Kopf, dann gebe ich auf. Ich weiß nicht genug über die Infrastruktur der örtlichen Gesundheitsversorgung, um einschätzen zu können, was Nummer neunundzwanzig in Minuten umgerechnet bedeutet. »Bleib hier«, sage ich zu Freddy.
    »Okay«, flüstert er.
    In der Diele hat Stephanie ihren Anruf beendet. Ihre Gesichtsmuskeln sind angespannt. Ich beobachte die Bewegung ihrer Lippen. »Sie sagt, wir müssen sie in eine andere Position bringen, sonst läuft noch mehr Blut in den Kopf. Wir können nur hoffen, dass es keine Wirbelsäulenverletzung ist. Komm, fangen wir an.«
    Wortlos bewegen wir Kaitlin, während die blecherne Musik – unter normalen Umständen ein Werk von ausgeprägter Schönheit – in meiner Tasche vor sich hin scheppert. DieTreppe ist schmal, und es ist anstrengend, Kaitlins reglosen Körper zu manövrieren. Einmal knurrt und tritt sie, wird dann wieder schlaff. Immerhin ein Lebenszeichen, ein Körper, der noch auf das Pumpen von Blut reagiert. Wir betten sie in die stabile Seitenlage.
    Stephanie sagt: »Meine Schwester meint, es sei nicht nur Freddy. Auch andere Kinder. Sie greifen Erwachsene an.« Ich stelle weitere unmögliche Berechnungen an. Epidemien können nach bestimmten Modellen ablaufen, aber Massenhysterie lässt sich nicht kartografieren. »Ich kümmere mich um Kaitlin, und du übernimmst Freddy. Hauptsache, du hältst ihn von uns beiden fern.«
    Als ich wieder in die Küche komme, sitzt Freddy auf dem Boden und hat den Inhalt eines Pappkartons auf den Fliesen ausgebreitet. Seine üblichen Utensilien: Klopapierrollen, Taubenfedern, Filzstifte, Büroklammern, Klumpen von Blu-Tack-Klebemasse. Er scheint sich allerdings nicht sicher zu sein, was er damit anfangen soll. Ich bemerke eine zunehmende Orientierungslosigkeit an ihm. Seine Augen huschen im Zickzack über die Decke, als würde er etwas suchen. Er blinzelt die Lampe an, reißt die Augen auf und blinzelt mehrfach hintereinander. Er greift nach einer Tube Holzkleber, drückt sie an die Brust und dreht sich auf dem Hintern herum wie ein menschlicher Kompass, der den Norden sucht. Als er innehält, ist sein Gesicht völlig ausdruckslos.
    »Freddy K?«
    Dann beginnt er aus heiterem Himmel zu weinen. Tiefe, wütende Schluchzer, die seinen kleinen Körper erschüttern. Sein Gesicht ist mit Rotz und Tränen verschmiert. Ich gehe zu ihm, knie mich hin, lege die Hände auf seine Schultern. Er sinkt gegen meine Brust und schlingt die Arme um meinen Hals. So verharren wir. Ich tätschle seinen Rücken, und er schluchzt.
    »Freddy K, Freddy K, Freddy K«, sage ich. »Komm, wir setzen uns an den Tisch und reden über alles. Ich bin hier. Ich kümmere mich um dich. Ich liebe dich. Wir finden heraus, was wir machen können.«
    Doch aus Gründen, die mir unbegreiflich sind, versetzt ihn genau das in die nächste Laune. Er reißt sich los und springt auf. »Ich hab Hunger!« Ich greife nach seiner Schulter, er reißt sich mit einer schnellen und überraschend starken Bewegung los. »Ich hab gesagt, ich hab Hunger!« Seine Stimme zittert, aber sie ist stark. Als wäre sie von Zorn erfüllt. Oder von Gewalt.
    Ich suche im Vorratsschrank nach den Spaghetti und überlege, welche Soße ich machen soll. Die Details werden mich retten. Fette, Proteine, Ballaststoffe, Natrium. Zutaten: Weizenmehl, Wasser. Wasser in den Topf geben. Gasherd einschalten. Zum Kochen bringen. Irgendwann wird der Strauss von einer Stimme

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