Die da kommen
Kaitlin. »Du kennst die Regeln, Freddy.« In der Ferne heult eine Polizeisirene. Freddy macht sie nach: »Wuu-wuu-wuu-wuu! Nee-nuu, nee-naa!«
»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigt sich Stephanie und faltet Kaitlins Mantel zusammen. Sie ist gut darin, die Ruhe zu bewahren.
Kaitlin sieht wieder zu mir und schüttelt den Kopf, dann wendet sie sich an Stephanie. »Ich habe es gar nicht bis dorthingeschafft. Der Zug ist ausgefallen. Da draußen herrscht Chaos. Habt ihr nichts gehört?« Einen Moment lang glaube ich, es könnte gut gehen. Eine äußere Ablenkung könnte die Spannung vertreiben.
»Wir haben keine Nachrichten gesehen«, antwortet Stephanie. »Es gibt etwas, worüber wir dringend reden müssen. Freddy, vielleicht könntest du nach oben gehen, damit sich die Erwachsenen in Ruhe unterhalten können?« Ihr Mund formt sich zu einem Lächeln, aber ihre Augen lächeln nicht mit. »Ich und Mama und Hesketh.«
Kaitlin läuft rot an. »Natürlich. Ich bin sehr gespannt, was ihr mir zu sagen habt. Freddy, verabschiede dich von Hesketh.«
»Wieso kann er nicht bleiben und die Arche mit mir zu Ende bauen?«
»Weil wir das nicht so abgesprochen haben.«
Ich halte immer noch das Lego-Teil zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann lege ich es ganz langsam hin.
Freddy bleibt hartnäckig: »Wann kann er wiederkommen? Wann? Du musst sagen, wann.«
Sie will mir in seiner Gegenwart keine Szene machen. Aber ich sehe ihren Zorn. Sie sagt nichts.
»Vielleicht sollten wir eine Vereinbarung treffen«, schlägt Stephanie in gemessenem Ton vor. »Dass Freddy und Hesketh einander sehen können, wenn Hesketh in der Stadt ist.«
Kaitlin wird noch röter. Ich weiß, dass sie das später als »Hinterhalt« bezeichnen wird.
»Cool!«, sagt Freddy.
Kaitlin legt den Zeigefinger auf den Nasenrücken: eine typische Geste unter Stress.
»Wir reden drüber.« Sie klatscht in die Hände. »Na los, Freddy. Auf geht’s! Ich zähle bis zehn, dann komme ich rauf. Eins. Zwei. Drei.« Als er weggelaufen ist, sagt Kaitlin zuStephanie: »Wir können offen darüber reden. Ich bin nämlich kein Ungeheuer.«
»Das hat auch niemand behauptet«, erwidert Stephanie leise. »Aber darum geht es nicht. Es ist etwas vorgefallen. Darum ist Hesketh hier. Es ist dringend.«
Kaitlin wird ungeduldig. »Na schön. Aber was immer es ist, zuerst rede ich mit Freddy.« Sie hebt die Stimme. »Neun, zehn! Freddy, ich komme!«
»Ich könnte einen großen Drink vertragen«, sagt Stephanie, als Kaitlin nach oben verschwunden ist. Ich schließe mich an. Wir gehen in die Küche. Stephanie sucht nach einer Vase, findet aber keine, also legt sie den Strauß ins Spülbecken und lässt Wasser einlaufen. Kaitlin hat die Blumen wohl für ihre Mutter gekauft. Ich entsorge die Reste unserer Pizza und wische den Tisch ab. »Nachdem du hier aufgetaucht bist und Freddy seinen Teil dazu gesagt hat, wird sie schon nachgeben«, sagt sie und holt eine Flasche australischen Shiraz aus dem Weinregal. »Aber angesichts dessen, was er vorhin gesagt hat, ist das alles zunächst mal unwichtig.« Sie schraubt den Korkenzieher hinein – der Griff besteht aus der Wurzel eines Weinstocks, den wir mal auf einem Weingut in Portugal gekauft haben – und zieht den Korken heraus. Sie gießt drei Gläser ein, aber wir warten nicht auf Kaitlin. »Prost.«
Der Wein ist ausgezeichnet und verleiht mir neue Energie. »Freddy kann unmöglich von Chen und Svensson und Farooq und de Vries gewusst haben«, sage ich.
»Oder vom Mädchen auf dem Turm.« Sie trinkt einen großen Schluck und schaut mich eindringlich an. Ich sage nichts, aber sie gibt nicht nach. »Komm schon, Hesketh. War wirklich ein Kind dort oben, als de Vries gesprungen ist?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie sieht mich immer noch an. »Das passt nicht zu dir.«
Ich trinke von meinem Wein und warte, bis sich die Wärme in meinem Körper ausbreitet. »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Ich glaube, ein Kind gesehen zu haben. Das glauben die anderen auch. Ich habe es in meiner Aussage nicht erwähnt, weil das Mädchen verschwunden ist. Sie war einfach … weg. Es war sehr heiß dort oben. Und anstrengend.«
»Warum hast du mir in Dubai nichts davon erzählt?«
»Ich hatte es noch nicht verarbeitet. Das habe ich immer noch nicht.«
Über uns bewegt sich etwas.
»Sie ist gleich hier. Wir kommen darauf zurück«, sagt Stephanie rasch. »Wir können sie nicht außen vor lassen. Sie muss alles erfahren. Wenn das, was Freddy sagt,
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