Die da kommen
beschönigt haben. Genau das brauchen wir jetzt auch. Eine unabhängige Person, die sich nicht von der Kultur beeinflussen lässt.«
»Sie haben mal gesagt, ich sei wahrscheinlich nicht für die Feldforschung geschaffen.«
»Tatsächlich? Nun, ich hatte zweifellos recht. Aber das hier ist keine Feldforschung. Betrachten Sie die Pflegeeinrichtung als Labor. Und bis Sie herkommen, sollten Sie auch Freddys Umgebung als solches betrachten. Wie geht es dem Jungen?«
Er liegt noch immer in seinem Pyjama da, zusammengerollt wie ein Tier im Winterschlaf. Ich greife nach der Decke und breite sie über ihn. Er sieht nicht aus wie ein Kind, das seine Mutter umbringen wollte. Er sieht nicht aus wie ein Junge, der mit seinen Freunden über Mord diskutiert.
»Sein Verhalten war atypisch«, sage ich und gehe in die Diele, außer Hörweite. »Es gab einen kurzen Zeitraum, in dem er zu begreifen schien, was er getan hatte. Und eine ausgeprägte räumliche Orientierungslosigkeit, unmittelbar nachdem er sie angegriffen hatte. Seither ist er unbekümmert. Aber sein Denken ist zusammenhanglos. Er erinnert sich nicht an das, was er getan hat.«
»Das klassische Muster.« Er seufzt und hält inne. »Hier ist es als Reaktion darauf zu einer furchtbaren … Barbarei gekommen. Fast eine Gegenepidemie, die durch Panik ausgelöst wurde. Und natürlich über die sozialen Netzwerke verbreitet wird. Alles ist explodiert, wie Sie sich vorstellen können. Es erinnert an gewisse Ängste, die wir bei speziesübergreifendenErkrankungen erlebt haben. Die meisten Eltern wünschen sich verzweifelt, dass ihre Kinder aus der Sache herausfinden und wieder normal werden. Aber das haben wir bisher in keinem einzigen Fall erlebt. Es heißt, es gebe keine Heilung. Obwohl ich Heilung für durchaus möglich halte, wir müssen sie nur finden.«
»Sekundäre Hysterie?« Hat er das vorhin mit »Kultur« gemeint? Es tut gut, mit dem Professor zu sprechen. Die alten, effektiven Kommunikationsmuster wieder aufzunehmen.
»Genau. Die Polizei berichtet, sie sei auf Eltern gestoßen, die ihre Kinder an der Autobahn oder auf dem Land einfach … entsorgen. Es gibt schon zu viele Fälle für eine Strafverfolgung. Wenn wir dafür gerüstet wären, alle Kinder rund um die Uhr in Pflegeeinrichtungen unterzubringen, würde so etwas nicht passieren. Aber die meisten müssen abends nach Hause, falls sie in der Nähe wohnen. Viele Familien kommen damit nicht zurecht. Vor allem, wenn es Geschwister gibt.« Er seufzt. »So, und jetzt erklären Sie mir die Überlappungen.«
Ich berichte rasch von Sunny Chens Selbstmordzeichnungen und den neuen Permutationen der Venn-Diagramme. »Blut. Gewalt. Augen. Salz. Einige Elemente erscheinen geradezu biblisch.«
»Was zu der Frage führt, ob es sich um eine gemeinsame Erzählung handelt, ob sie als Kollektiv einen alten Mythos nachspielen oder einen neuen erschaffen.«
»Weiter.«
»Nun, ich mache mir so meine Gedanken. Das Phänomen scheint mir weit über das rein Physische hinauszugehen. Hier ist ein kollektives Unterbewusstsein am Werk, und es verfügt über eine Ideologie oder Metaphysik, die wir identifizieren müssen. Die anarchistische Theorie überzeugt mich nicht. Und es ist kein Terrorismus, wie wir ihn kennen. Obwohlich schon jetzt prophezeie, dass dieses Wort bald auftauchen wird.«
»Nun, die Lobbyisten, die die Theorie von der Auslöschung der menschlichen Rasse vertreten, haben natürlich Oberwasser. Ein absoluter Push für diese Besser-ohne-uns-Bewegung.«
»Weitere Prophezeiungen?«, fragt er.
Ich habe bereits ein Ablaufdiagramm erstellt. Er sicher auch.
»Es dürfte mehr Fälle von Sabotage geben, als bislang bekannt sind. Falls sie andauern, werden Energie- und Kommunikationssysteme zusammenbrechen. Es wird zu einer Nahrungsmittelknappheit kommen. Alle Katastrophenpläne sind willkürlicher Sabotage ausgesetzt, daher sehe ich anders als die Regierung keinen Grund zum Optimismus. Was die Kinder betrifft, so dürfte in der Bevölkerung schon vor längerer Zeit die Theorie einer Besessenheit durch Außerirdische entstanden sein, nämlich gleich nach den ersten Angriffen.« Während ich spreche, rolle ich den Ärmel hoch und untersuche die Haut an meinem Bizeps. Die winzigen Fingerabdrücke sind noch da. »Man wird die Idee in den Nachrichten zunächst als unglückliches und fehlgeleitetes Gerücht abtun. Wird sie aber wiederholt, vor allem von jemandem, der im Licht der Öffentlichkeit steht – einem sogenannten
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