Die da kommen
Ihre Augen sind rot, und als sie die Jacke auszieht, sehe ich, wie sich die Schulterblätter unter ihrem Pullover abzeichnen.
»Freddy ist in seinem Zimmer.«
Sie lässt sich aufs Sofa fallen.
»Ich rufe ihn.«
»Nein. Nicht.« Ihre Stimme klingt ausdruckslos. Ich kann sie nicht deuten.
»Wieso nicht?«
»Hesketh, Freddy muss hier weg.«
»Wieso?«
»Wenn Kaitlin nach Hause kommt, will ich ihn nicht in ihrer Nähe haben.«
»Das kannst du nicht entscheiden. Er wohnt hier. Das kannst du nicht einfach so sagen.« Ich habe nicht aufgehört, sie zu hassen.
»Kann ich doch.«
»Nein. Es liegt bei Kaitlin. Sie kann darüber entscheiden, sobald sie aufwacht. Ich werde Freddy jetzt rufen. Du musst ihn sehen.«
»Nein!«, sagt sie scharf und setzt sich auf. »Nein. Nein. Nicht jetzt. Hesketh, sie wacht nicht auf. Nie wieder. Jedenfalls nicht richtig. Man nennt es einen schweren Hirninsult. Das kommt bei geschlossenen Kopfverletzungen häufig vor. Es ist inoperabel.«
Sie bricht zusammen.
Ich sehe zu, wie ihr Körper von Schluchzen geschüttelt wird. Sie greift nach einem Kissen und drückt es gegen ihren Bauch, als hätte man auf sie geschossen und sie wollte die Blutung stillen.
Zögernd setze ich mich neben sie und wende Ashoks Strategie an, fühle mich aber nicht wohl dabei. Nach einer Weile beruhigt sie sich ein bisschen, entschuldigt sich und legt das Kissen weg. Ich höre auf, ihre knochige Schulter zu tätscheln, und hole ihr ein Glas Wasser. Sie bedankt sich und trinkt es in einem Zug aus. Dann greift sie in ihre Handtasche, reicht mir eine transparente Mappe mit Unterlagen und verschwindet abrupt nach oben. Kurz darauf höre ich das Badewasser laufen.
Die Mappe enthält sieben ausgedruckte Seiten. Normalerweise überfliege ich jeden Text in seiner Gesamtheit und merke mir die wesentlichen Punkte. Diesmal lese ich nach den ersten Aufzählungspunkten nicht mehr weiter. Die Überschrift lautet: Schweres Hirntrauma: womit Sie rechnen müssen. Ich denke an Kaitlins Gehirn. Ein Gehirn, das ich früher einmal geschätzt habe, zusammen mit dem Körper, in den es gehörte, das mir dann aber fremd wurde – und jetzt ein Gehirn, das eine Verletzung erlitten hat und schwer geschädigt ist. Kaitlins Gehirn ist nicht mehr dasselbe. Bei Personen, die kognitive Funktionen wiedererlangen, kommt es oft zu Persönlichkeitsveränderungen.
Insult. Das Wort – das auch Beleidigung bedeutet – ist gut gewählt.
Was geschieht mit den Regeln der Liebe, wenn sich ein Mensch verändert?
Sind Mutter und Sohn noch dieselben Menschen?
Ich werde Freddy immer lieben, ich werde Freddy immer lieben, ich werde Freddy immer lieben.
Aus Seite eins falte ich einen Schmetterling. Und Seite zwei wird zum Frosch.
Ich werde ihn trotz allem lieben.
10
Freitag, der 28. September. Ich wache um 6.18 Uhr auf. Das Internet funktioniert. Wettervorhersage: teilweise bewölkt, ein Tief, das sich nach Westen verlagert, vereinzelte Regenschauer. Temperaturen um sechzehn Grad, nachts um zwölf Grad. Die Augenärztin hat mir ihre Analyse des Autopsieberichts geschickt, und ich notiere mir im Geist die Informationen.
Ich wollte mit Stephanie sprechen, bevor Freddy aufwacht, aber sie ist schon gegangen. Auf dem Küchentisch liegt neben dem Schmetterling und dem Frosch eine kurze Mitteilung, dass sie heute Abend Kaitlins Auto zurückbringt, danach gehöre es mir. Sie hat mit S. unterzeichnet und wünscht mir im PS »alles Gute«.
Zerstreute Menschen sind manchmal sehr undifferenziert.
Ich entfalte die beiden Origami-Figuren, lese die Informationen über Hirnverletzungen und lege sie im Geiste ab. Sie sind für Laien formuliert und in neutralem Ton gehalten. Doch als ich vom Tisch aufstehe, spüre ich ein zusätzliches Gewicht auf meinen Schultern. Es ist ein sehr greifbares und konkretes Gefühl, als würde ein fünfzehn Kilo schwerer Rucksack an meinen Schultern ziehen. Ich überlege. Für einen Mann meiner Größe sind fünfzehn Kilo zu ertragen.
Ich habe Kaitlin einmal geliebt. Aber Freddys Liebe zu ihr ist aktiv und aktuell. Ebenso die von Stephanie, davon gehe ich jedenfalls aus. Beide sind auf ihre Weise eine unbekannteGröße: Freddy, weil seine Realität unerklärlicherweise »außer Kraft gesetzt« ist, und Stephanie, weil ich sie nicht gut genug kenne, um ihre Reaktion vorhersagen zu können. Wenn ich mich an der Beschreibung des Trauerzyklus orientiere, den Elisabeth Kübler-Ross in ihrem bahnbrechenden Werk Interviews mit
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