Die da kommen
anfangen, die keine Familie haben. Ich versuche es bei Stephanie.«
»Geben Sie sich keine Mühe. Sie ist bei Kaitlin im Krankenhaus.« Den Grund nenne ich nicht. »Was ist los bei Ashok?«
Auf meine Frage hin beginnt sie zu weinen. Während Belinda sich schluchzend entschuldigt, trinke ich einen Schluck Kaffee und warte. Vierunddreißig Sekunden vergehen.
»Er kümmert sich um seine Schwester.« Ich erinnere mich an das Familienfoto auf seinem Regal, neben meinem Papier ozuru , der Locher-Konfetti aufpickt. Die Frauen und Mädchen in traditioneller Kleidung, Männer und Jungen im Anzug.
»Gestern Abend haben die beiden jüngeren Kinder ihren Vater mit einem Küchenmesser getötet.«
»Ashoks Schwester heißt Manju«, erinnere ich mich. »Das bedeutet süß oder Schnee oder Tautropfen.« Ich hatte ihn gebeten, mir die Bedeutung aller ihrer Namen zu erklären.
»Hesketh, haben Sie nicht gehört? Ich habe gesagt, gestern Abend …«
»Die Söhne heißen Birbal – das bedeutet mutiges Herz – und Jeevan, was Leben heißt. Und Deepak. Lampe oder Licht. Die Tochter heißt Asha, was sich mit Hoffnung oder Verlangen übersetzen lässt. Ihr Ehemann ist Amit, was grenzenlos oder endlos bedeutet.«
»Nun, Amit ist tot. Die beiden Jüngsten haben ihn getötet.«
Also ist Amit nicht endlos. Er wurde von Lampe oder Licht und Hoffnung oder Verlangen ermordet. Sie schaut mich fragend an.
»Tot. Ich verstehe.« Es herrscht Schweigen. »Es tut mir leid. Ich bin langsam. Ich brauche eine Weile, um …« Ich halte inne. Wir schweigen weiter.
»Keine Sorge«, sagt Belinda sanft. »Ich kann es auch nicht glauben.« Sie schluckt. »Ich habe die Hotline angerufen. Alle Angriffe durch Kinder müssen gemeldet werden. Es gibt ein Register für gefährdete Familien. Falls Sie Freddy in eine Pflegeeinrichtung bringen, wird man sich im Laufe des Tagesum ihn kümmern. Genau das macht Ashok auch mit Deepak und Asha. Sie können sie aber vermutlich nicht länger als zwölf Stunden am Tag behalten, weil es weder genügend Personal noch Betten gibt.«
Ich versuche, eine sinnvolle Reaktion zustande zu bringen, als sich Belindas Blickwinkel verschiebt. Sie wirkt plötzlich verschreckt. »Nun, Hesketh, vielleicht sollten wir uns verabschieden.« Ich drehe mich um. Freddy ist hereingekommen, grinsend und mit zerzaustem Haar. Belinda lächelt strahlend und bemüht und sagt mit einer ganz anderen, lauteren Stimme: »So, Hesketh, Ashok meldet sich vielleicht später bei Ihnen. Er arbeitet heute von zu Hause aus.« Nach einem weiteren Seitenblick auf Freddy fügt sie hinzu: »Viel Glück an der Heimatfront.« Dann trennt sie die Verbindung.
Der Junge an der »Heimatfront« ist müde und mürrisch. Ich frage ihn, ob er noch ein paar Stunden schlafen möchte. Nein, er wolle essen, sagt er. Er will Porridge. Außerdem will er Eier. Rührei. Während ich den Porridge mache – die gewohnten Bewegungen des Gießens und Rührens wirken beruhigend –, versuche ich, einen Sinn in dem zu finden, was mir Belinda über Ashoks Schwager erzählt hat. Aber es geht nicht. Ich sehe nur Farben. Einen Teppich in Wüstensand im Haus seiner Schwester, der von heliotropfarbenem Blut befleckt ist.
Freddy verschlingt gierig seinen Porridge und verkündet, als ich ihm das Rührei vorsetze: »Das reicht nicht. Ich will mehr.«
»Iss das, und dann überlegst du es dir noch mal.« Die Eier sind in wenigen Sekunden verschwunden.
»Hab ich doch gesagt.«
Ich schalte in den Beobachtungsmodus. Er hat seine Mutter noch immer nicht erwähnt. Er springt vom Stuhl, reißt dieTür des Vorratsschranks auf und holt eine Dose Thunfisch heraus.
»Gib mir den Dosenöffner«, kommandiert er. Kurz darauf hat er die Dose geschickt geöffnet und greift nach der Salzmühle: einem riesigen, schweren, schmiedeeisernen Ding, das Kaitlin auf dem Flohmarkt gekauft hat. Bei so etwas ist sie wie eine Elster. Er kann das Ding kaum heben, bleibt aber hartnäckig und mahlt viel zu viel Salz über seinen Thunfisch. Er verschlingt ihn schnell und schmutzig.
»Öch wöll möhr. Öch wöll möhr.« Schon wieder die tiefe, kehlige Archaeopteryx-Stimme. Er verputzt einen Teller Kartoffelbrei, den ich im Kühlschrank gefunden und aufgewärmt habe. Auch den salzt er stark. Er schluckt mit konzentrierter Eile. Ich bremse ihn nicht. Ich schaue nur zu und mache mir im Geist Notizen. Ich frage mich, ob das hier als Feldforschung zählt.
»Freddy K, wusstest du, dass zu viel Salz ungesund ist?«
Er
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