Die Daemmerung
hat«, sagte Flint, und jedes Wort entfernte ihn weiter von Chert, der das Gefühl hatte, es gäbe keinen festen Grund mehr, um darauf zu stehen. »Vielleicht erinnert er sich jetzt wieder.«
»Ja, schon möglich«, sagte Gulda. »Aber verändert scheint er trotzdem.«
»Und was sagt der Herr der Grünen Tiefe zu Euch?«
Gulda musterte ihn eine ganze Weile, ehe sie antwortete. »Dass der Tag kommt, an dem die Götter zurückkehren. Dass wir alles tun sollen, um ihm zu helfen, zu uns zurückzukehren.«
Flint nickte. »Alles für Egye-Vars Rückkehr. Aber Ihr sagt, er wirkt jetzt anders, wenn er zu Euch spricht.«
Gulda nickte. »Näher irgendwie. Und so zornig wie noch nie, nicht mal zu Zeiten unserer Großmütter. Heiß, nicht kalt. Ungeduldig und heiß und gierig, wie jemand, der dürstet.«
»Dürstet«, sagte Meve und mühte sich langsam von der Bank hoch. Dabei wankte sie, ein winziges, zerbrechliches Bündel wie ein getrocknetes Vogelnest, nur Lehm und Zweigstücke. Gulda wollte ihr helfen, doch Meve schlug ihre Schwester mit zittriger Hand weg. Als sie sich ihnen wieder zuwandte, sah Chert, dass ihre Augen weiß vom Augenperlmutt waren — sie musste blind sein.
»Träume ... verändert ...«, krächzte sie und wies mit der Hand auf Chert, als hätte er ihr etwas gestohlen. »Heiß. Heißer Schlaf. Kalte Zeit. Zornig?«
Chert wich erschrocken zurück, doch Flint trat vor und fasste ihre knochigen Finger. Die Alte zitterte am ganzen Leib wie von einem Fieber.
Ihre Schwester beeilte sich, sie zu beruhigen. »Oh, ist ja gut, meine Liebe, meine Süße, ist ja gut«, sagte sie und küsste ihre Schwester auf das schüttere weiße Haar. »Hab keine Angst. Gulda ist ja bei dir. Ich bin ja hier.«
»Angst«, sagte Meve mit ihrer kratzigen Flüsterstimme. »Hier.« »Was ist hier, meine Liebe? Was ist hier?«
Die kleine alte Frau sprach so leise, dass Chert es kaum verstand.
»Zornig ...«
Ena, Langfingers Tochter, ruderte sie zur fünften Laterne am Mündungssumpfweg zurück und ließ sie die Augenbinden wieder abnehmen. Chert war froh, wieder sehen zu können, aber noch froher war er gewesen, der salzigen, rauchigen Luft des Dörrschuppens zu entkommen.
»Und? Hast du gefunden, was du gesucht hast, kleiner Mann?«, fragte das Mädchen Flint.
»Ich weiß nicht«, sagte Flint. »Ich befühle im Dunkeln unbekannte Dinge und versuche, ihre Form zu erkennen.«
»Bist ein seltsames Kerlchen, was?« Das Skimmermädchen wandte sich Chert zu. »Jetzt weiß ich wieder, wer Ihr seid — Chert aus der Blauquarzsippe.«
Chert, der geglaubt hatte, dieser lange Abend der sonderbaren Überraschungen sei vorbei, starrte sie an. »Woher kennt Ihr mich?«
»Lasst gut sein. Besser nicht drüber reden. Aber Ihr seid doch ein Freund von diesem Ulosier — Chaven?«
Selbst wenn sie ihnen irgendwie geholfen hatte — und da Chert nicht wusste, was Flint gewollt hatte, konnte er nicht einmal das mit Gewissheit sagen —, so töricht, einer beinahe Fremden etwas über den flüchtigen Arzt zu erzählen, war er bestimmt nicht. »Ich habe ihn öfter besucht. Das weiß jeder. Warum?«
»Ich habe eine Botschaft für ihn. Wir haben ihm geholfen, und er hat uns dafür Geld versprochen. Ganze Tage haben wir für ihn gearbeitet, und da er uns unseren Lohn nicht gezahlt hat, steht mein Vater vor den anderen dumm da. Wenn Ihr ihn seht, richtet's ihm aus — die Skimmer wollen ihren Lohn.«
Auf dem Weg durch Chavens Haus zur Geheimtür und dem unterirdischen Gang nach Funderlingsstadt hörten sie plötzlich Geräusche — Schritte und etwas, das wie ferne Geisterstimmen klang. Cherts abergläubisches Entsetzen schlug rasch in ganz normale Angst um, als er die Stimmen deutlicher hörte und merkte, dass es Männer von Hendon Tollys Garde waren, die nach ihnen suchten.
Sie müssen das Haus beobachtet haben,
dachte er und kämpfte gegen die Panik an.
Aber wir sind doch im Schattendunkel geblieben — vielleicht wissen sie ja nicht genau, ob wir hier drinnen sind. Alte der Erde, bitte lasst es so sein!
Chert kannte das Haus besser als irgendwelche Soldaten, zumindest die unteren Stockwerke, und so schafften sie es, unentdeckt durch die Tür im Keller hinauszuschlüpfen. Von draußen verkeilte Chert die Tür mit Steinsplittern in der Hoffnung, dass die Garden den Ausgang, wenn sie ihn hinter dem Wandteppich auf der anderen Seite fänden, für längst zugenagelt halten würden. Doch das Ganze bedeutete, dass Chavens Observatorium genau
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