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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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trüben Düsternis des ewigen Abends geschluckt. »Sei verflucht, du widerlicher Vogel, wo bist du?« Er hörte die Wut in seiner Stimme und besann sich eines Besseren. »Komm zurück, Skurn, bitte! Du ... du darfst auch unter meinem Hemd schlafen.« Das hatte er ihm sonst, wenn es kalt geworden war, verboten: Schon beim Gedanken, diesen stinkenden, alten Aasvogel samt dem in seinem Gefieder hausenden Getier an seiner Brust zu beherbergen, hatte ihn geschaudert, und das hatte er dem Raben auch gesagt — in aller Deutlichkeit.
    Jetzt allerdings bereute Barrick seine Strenge.
    Allein.
Ein Gedanke, den er aus Angst, davon überwältigt zu werden, bisher nie zugelassen hatte. Seine gesamte Kindheit hatte er als eine Hälfte von »die Zwillinge« verbracht, einer Einheit, von der sein Vater, sein Bruder und die Bediensteten immer so gesprochen hatten, als handelte es sich dabei nicht um zwei Kinder, sondern um
ein
ungemein schwieriges, zweiköpfiges Kind. Und zudem waren die Zwillinge so unablässig von Dienern und Höflingen umgeben gewesen, dass sie verzweifelt nach Fluchtmöglichkeiten gesucht hatten, um einmal allein sein zu können; einen Großteil seiner Kindheit hatte Barrick Eddon damit verbracht, Verstecke zu finden, in die Briony und er sich zurückziehen konnten. Im Moment erschien ihm ein bevölkertes Schloss allerdings eher wie ein schöner Traum.
    »Skurn?« Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob es eine gute Idee war, seine Einsamkeit einfach so hinauszuschreien. In den vergangenen Tagen waren sie kaum auf andere Wesen getroffen, doch das hatte vor allem daran gelegen, dass Kituyik und seine Armee hungriger Diener das Terrain in einem beträchtlichen Umkreis um Große Tiefen von allem gesäubert hatten, was größer war als eine Feldmaus. Aber jetzt war er weit von den Minen des Halbgottes entfernt ...
    Barrick erschauerte wieder. Er wusste, er täte besser daran zu bleiben, wo er war, doch der Nebel stieg, und er glaubte immer wieder, in der wabernden Ferne Anzeichen irgendeiner Aktivität zu erkennen, als ob einige der perlweißen Schwaden sich nicht mit dem Wind, sondern selbständig bewegten.
    Die Brise frischte auf, wurde kälter. Ein Seufzen und Wispern schien durch die Blätter über seinem Kopf zu gehen. Barrick packte den Speer am gebrochenen Schaft und machte sich auf den Weg.
    Der Nebel schränkte seine Sicht ein, aber er kam ohne allzu viel Stolpern voran, wenn er auch ab und zu mit dem Speer prüfen musste, ob ein dunkler Fleck im Gestrüpp zu seinen Füßen nicht ein Loch war, wo er hineintreten und sich den Knöchel verstauchen könnte. Doch der Pfad vor ihm schien jetzt überraschend frei, weit einfacher zu bewältigen als das dornige Dickicht der letzten Stunden. Erst nach ein paar hundert Schritten ging ihm auf, dass er sich nicht länger einen Weg suchte, sondern einem
folgte:
Weil der Weg frei war, ging er dahin, wo dieser Weg hinführte.
    Und wenn irgendjemand ... oder irgendetwas ... will, dass ich genau das tue ...?
    Noch ehe ihm die Tragweite dieser Frage völlig bewusst war, huschte etwas am Rande seines Sichtfelds vorbei. Er fuhr herum, doch bis auf einen Nebelfetzen, den der von ihm selbst verursachte Luftzug bewegte, war da nichts. Als er sich gerade wieder zurückdrehte, flitzte ein Stück vor ihm etwas Nebelfarbenes über den Pfad, war aber zu schnell wieder verschwunden, als dass er es genauer hätte erkennen können.
    Er blieb stehen. Mit zitternden Händen hob er den schartigen Speer. Dort, ein Stück entfernt, bewegte sich eindeutig etwas im Nebel zwischen den Bäumen, mannsgroße Gestalten, aber bleich und verflucht schwer zu erkennen. Wieder war über ihm dieses Wispern, das jetzt weniger wie die Stimme des Windes und mehr wie eine unverständliche, zischende Sprache klang.
    Plötzlich hinter ihm ein Rascheln, unendlich leise, weiche Schritte auf Laub — Barrick wirbelte herum und sah für einen Moment etwas, das keinen Sinn ergab: Die Gestalt war fast so groß wie ein Mensch, aber verwachsen wie eine Alraunenwurzel und wie ein königlicher Leichnam in etwas eingewickelt: in nebelweiße Fäden — vielleicht
war
es ja Nebel, dachte er schaudernd, Nebel, der eine entfernt menschliche Gestalt angenommen hatte. An manchen Stellen waren die Nebelfäden nicht dicht genug gewickelt, und etwas glänzend Grauschwarzes quoll und triefte hervor. Auch wenn die Erscheinung keine erkennbaren Augen hatte, schien sie Barrick sehr gut sehen zu können; im nächsten Augenblick verschwand das

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