Die Daemmerung
Ruhepause war, aber trotz des Verdrusses, den ihm der Vogel bereitete, war Skurn doch wenigstens jemand, mit dem er sich in diesen Landen der ewigen Düsternis, des grauen Himmels und der bedrohlichen, mit schwarzem Moos behangenen Bäume unterhalten konnte. Ohne den Vogel schien sich die Stille wie Nebel um ihn zu verdichten.
Er schlang die Arme um die Knie und zog die Beine eng an den Leib, um nicht zu zittern.
Nach Barricks Schätzung musste es mehr als ein halbes Tagzehnt her sein, dass Gyir und Vansen gefallen waren und er dem labyrinthischen unterirdischen Reich des Halbgotts Kituyik entronnen war. Im ewigen Zwielicht der Schattenlande war es schwer, Zeiträume abzuschätzen, aber er wusste, dass er mehr als ein halbes Dutzend Mal geschlafen hatte — diesen langen, tiefen, aber irgendwie dennoch nicht erholsamen Schlaf, den er hier lediglich fand. In der Welt dort draußen war Kerneia gekommen und vergangen, während er und seine Kameraden unter der Erde gefangen gesessen hatten — das wusste Barrick, weil der grässliche Kituyik ja die Absicht gehabt hatte, den Tag des Erdherrn zu feiern, indem er Barrick und die anderen opferte. Da sie Südmark im Ondekamene verlassen hatten, um gegen die Zwielichtlerarmeen zu kämpfen, bedeutete das, dass er seine Heimat seit über einem Vierteljahr nicht mehr gesehen hatte. Was mochte in dieser langen Zeit geschehen sein? Waren die Zwielichtler dort angelangt? Stand seine Schwester Briony unter Belagerung?
Vielleicht zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Tag auf dem Kolkansfeld erkannte Barrick Eddon seine sonderbare innere Gespaltenheit: Er fühlte noch immer eine unerklärliche, fast schon sklavische Loyalität zu dieser majestätischen, furchteinflößenden Kriegerin, die ihn auf dem Schlachtfeld aufgelesen und über die Schattengrenze geschickt hatte (wenn er sich auch immer noch nicht erinnern konnte warum oder mit welchem Auftrag), aber gleichzeitig wusste er jetzt, dass diese dunkle Kriegerin Yasammez war, Fürstin Stachelschwein, die Kriegsherrin der Qar, die nichts kannte als ihren Hass auf alle Sonnländer ... Barricks Volk. Wenn die Qar in diesem Moment Südmark belagerten, wenn seine Schwester und die übrigen Südmärker in Gefahr oder sogar schon ermordet worden waren, dann auf Betreiben dieser Frau.
Und jetzt hatte er noch eine Mission für Yasammez und die Qar geerbt. An die erste, von dem Tag, an dem ihn die dunkle Fürstin auf dem Schlachtfeld verschont hatte, konnte er sich nicht erinnern: Es fühlte sich an, als hätte Yasammez diesen Auftrag in ihn hineingegossen wie Öl in eine Kanne und dann den Stopfen so tief hineingedrückt, dass er selbst ihn nicht mehr herausbekam. Den zweiten Auftrag hatte er allein auf das Wort ihres obersten Gefolgsmannes Gyir hin übernommen: Weil der gesichtslose Elbe, kurz bevor er für Barrick sein Leben hingab, geschworen hatte, dass die Mission für die Menschen und die Elben gleichermaßen wichtig sei. Und deshalb tauchte Barrick jetzt, da er endlich frei war, zu tun, was jedes vernünftige Wesen täte (nämlich so schnell wie möglich wieder zur Schattengrenze und in die Sonnenlande zurückzukehren), immer tiefer in dieses Land der Nebel und des Wahnsinns ein.
Wie auf dieses Stichwort hin schien der Nebel zurückzukehren. Es war kälter geworden, seit der Vogel davongeflogen war, und vom Boden stiegen jetzt milchige Schwaden auf. Barrick kam sich vor, als säße er in einer wogenden Wiese von Geistergras: Bald würde auch sein Kopf im Nebel verschwinden. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht, also rappelte er sich auf.
Der Bodennebel wurde immer dichter, strudelte wie Wasser um die grauen Baumstämme — kroch sogar die Stämme empor. Bald würde er überall sein. Wo war dieser verfluchte Vogel? Wie konnte er einfach davonfliegen und einen Gefährten im Stich lassen — was war das für eine Loyalität? Wann würde er zurückkommen?
Wird er überhaupt zurückkommen?
Der Gedanke war eine kalte Hand, die sich um sein pochendes Herz schloss. Der Vogel hatte Gyir keinen Schwur geleistet, so wie Barrick. Skurn kümmerten weder die Wünsche der Sonnländer noch die der Qar sonderlich — eigentlich kümmerte ihn kaum etwas außer seinem Bauch und dem widerwärtigen Zeug, mit dem er ihn füllte. Vielleicht war der Rabe ja plötzlich zu dem Entschluss gekommen, dass er hier nur seine Zeit vergeudete.
»Skurn!« Der Ruf flatterte so kraftlos aus seiner Kehle wie ein Pfeil von einer gerissenen Sehne und wurde von der
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