Die Daemmerung
Kinder. Lebend. Hundert Stück müssten genügen ...«
Weitere Erklärungen oder genauere Anweisungen hatte es natürlich nicht gegeben: Das wäre bei diesem Autarchen auch ein Wunder gewesen.
Hundert Kinder aus ihrem Elternhaus verschleppen. Sie aufs Schiff schaffen. Unterbringen, ernähren — sie am Leben und in einigermaßen guter Verfassung erhalten. Aber darf ich vielleicht erfahren warum? Nein, natürlich nicht. Stell bloß keine Fragen, Vash. Du magst zwar der älteste und vertrauenswürdigste Ratgeber des Autarchen sein, doch solch minimale Höflichkeiten hast du nicht verdient,
sagte er sich verbittert.
Tu einfach nur, wie dir befohlen.
Der Oberste Minister ging noch ein letztes Mal um den Teil des Laderaums herum, wo mit zusammengeschnürten Holzstäben ein Käfig für die kleinen Gefangenen abgeteilt worden war. Er beherbergte ein Dutzend, die übrigen waren auf mehrere andere Schiffe verteilt. Sie zu ernähren, war nicht das Problem, dachte Vash, während er die blassen Gesichter musterte, die so verwirrt, verstockt oder auch offen panisch dreinblickten. Aber sie am Leben zu erhalten — wie sollte er das machen? Jetzt schon hatten einige von ihnen Rotznasen und Husten. Ein Käfig im Laderaum war nun mal nicht der gemütlichste Ort für ein Dutzend halbnackter Kinder, aber würde der Autarch das einsehen, wenn ein plötzliches Fieber alle dahinraffte? Würde er nicht.
Nein, dann kostet es mich den Kopf,
dachte Vash düster. Er starrte auf einen weinenden Jungen und wünschte, er könnte durchs Gitter langen und das Kind schlagen, damit es aufhörte zu heulen.
Und selbst wenn ich Glück habe und es schaffe, sie am Leben
zu
erhalten, damit sie ihm für weiß der Götterhimmel welch verrückten Plan zur Verfügung stehen, was kommt dann als Nächstes? Was kommt dann, Pinnimon?
Die bizarren Entscheidungen des Autarchen nahmen kein Ende. Sie hatten Hierosol nur mit einem einzigen Schiff verlassen, doch unterwegs waren dann viele weitere xixische Schiffe zu ihnen gestoßen, alle voll mit Soldaten. Jetzt, nachdem die Flotte die brenländische Küste hinauf und durch die Straße von Connord gesegelt war, ankerte sie in einer flachen Bucht der wilden Lande an der Ostgrenze von Helmingsee. Das überraschte Vash ebenso wie die Sache mit den hundert Kindern. Er war immer stärker davon überzeugt, dass ihn sein Gebieter über die wichtigsten Teile dieses verrückten Unternehmens absichtlich im Dunkeln ließ.
Und noch sonderbarer: Ein Trupp von Weißen Hunden, der grimmigen Elitetruppe des Autarchen, wurde samt Pferden an Land gerudert. Sie ritten westwärts davon, in den Wald, und waren noch nicht wieder zurück, als der Autarch dem Kapitän befahl, Anker zu lichten. Da die Flotte immer noch viele Meilen von ihrem angeblichen Ziel Südmark entfernt war, konnte Vash sich nicht vorstellen, mit welchem Auftrag die Weißen Hunde hier abgesetzt worden waren.
»Seien wir ehrlich miteinander, Olin«, sagte Sulepis, »als gelehrte Männer und Brudermonarchen.« Jetzt, da sie wieder auf See waren und der Küste folgend ihrem Ziel entgegensegelten, war der Autarch gesprächig. Er stand so nah an der Reling — und bei dem Nordländerkönig —, dass Vash die Nervosität der Leoparden-Leibwächter, die die Situation mit dem starren Raubtierblick ihrer Namenspaten beobachteten, regelrecht fühlte. »Das meiste, was uns die Priester und die heiligen Bücher über die Götter sagen, ist doch Unsinn. Das sind doch Geschichten für Kinder.«
»Vielleicht gilt das ja für die Geschichten über Euren Gott«, sagte Olin steif, »aber das heißt nicht, dass ich die Weisheit unserer Kirche so leichthin verwerfe ...«
»Dann glaubt Ihr also alles, was in Eurem
Buch des Trigon
steht? Über Frauen, die in Eidechsen verwandelt wurden, weil sie die Annäherungsversuche der Götter zurückwiesen? Über Volos Langbart, der das Meer leertrank?«
»Was die Götter bezwecken und was sie vermögen, wenn sie wollen, entzieht sich unserem Urteil.«
»Ah ja, da sind wir uns einig, König Olin.« Der Autarch lächelte. »Ihr findet das Thema nicht interessant? Dann lasst mich von etwas Konkreterem sprechen. In Eurer Familie liegt eine gewisse unsichtbare ... Abnormität. Ein Makel, wenn man so will. Ich glaube, Ihr wisst, was ich meine.«
Olin war sichtlich wütend, hielt aber seine Stimme ruhig. »Makel? Auf den Eddons liegt kein Makel. Nur weil Ihr die Macht habt, mich zu töten, habt Ihr noch lange nicht das Recht, meine Familie und
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