Die Daemmerung
Finn rasch. »Doch wenn Euch mein Freund erzählt hat, er sei der Besitzer, hat er gelogen — im Suff höchstwahrscheinlich.« Er warf Estir Makswell einen strengen Blick zu, ehe sie zu einer empörten Verteidigung ihres Bruders ansetzen konnte. »Der arme Mann. Ihm gehörte einst dieses Unternehmen, aber er hat es schon vor langer Zeit beim Glücksspiel verloren. Kann froh sein, dass ich ihn behalten habe, als ich es kaufte.«
»Und wer seid Ihr?«, fragte der Ordnungshüter.
»Oh, Bruder Doros vom Orden des Orakels Sembla, zu Euren Diensten.«
»Ihr seid Priester? Und reist mit
Frauen?«
Das brachte Finn einen Moment aus der Fassung, doch dann sah er, dass der Ordnungshüter nicht auf Briony, sondern auf Estir Makswell zeigte. »Ach,
die.
Die ist hier Köchin und Näherin. Macht Euch keine Sorgen um ihre nicht mehr ganz taufrische Tugend. Wir Brüder sind ein gottesfürchtiges, mitfühlendes Völkchen — wenn Ihr mir nicht glaubt, bittet doch den Bärtigen, den wir Nevin nennen, Euch etwas über das schreckliche Martyrium der Oni Pouta zu erzählen, die immer und immer wieder von krakischen Barbaren vergewaltigt wurde. Der Mann weint, wenn er es beschreibt, so eingehend hat er diese und andere Lektionen studiert, die uns die Götter haben zuteilwerden lassen.«
Der Ordnungshüter schien jetzt gründlich verwirrt. »Aber was ... wozu all die Kostüme hier? Wie könnt Ihr Priester sein und dennoch Schauspieler?«
»Wir sind ja keine richtigen Schauspieler«, sagte Finn. »In Wahrheit sind wir auf einer Pilgerfahrt in den Norden, nach Wildeklyff, aber Aufgabe unseres Ordens ist es, Lehrstücke für die ungewaschenen Bauern aufzuführen, fromme Exempel aus dem Leben der Orakel und des Buchs des Trigon nachzuspielen, damit die Ungebildeten verstehen können, was sonst zu hoch für sie wäre. Möchtet Ihr uns einmal die Häutung des Zakkas darstellen sehen? Er schreit sehr hübsch, ehe er dann von einem geflügelten Avatar der Götter gerettet wird ...«
Doch der Ordnungshüter entschuldigte sich bereits. Estir Makswell geleitete ihn aus dem Wagen, drehte sich aber noch einmal zu Finn um und funkelte ihn wütend an, ehe sie das steile Treppchen hinunterstieg.
»Habt Ihr das alles erfunden?«, fragte Briony leise, als der Ordnungshüter draußen war. »So einen Unsinn habe ich noch nie gehört!«
»Tja, dann habe ich eben wie die Orakel selbst mit Götterzungen gesprochen«, sagte Finn selbstzufrieden, »denn wie Ihr seht, ist er weg, und uns ist nichts passiert. Also lasst uns jetzt einen Übernachtungsplatz suchen und herausfinden, was diese Stadt an Vergnügungen zu bieten hat.«
»Sie sind in Trauer um ihren Baron«, wandte Briony ein.
»Ein Grund mehr — wie Ihr mit den Jahren merken werdet —, die Tatsache zu feiern, dass wir noch am Leben sind.«
Nicht immer konnten die Schauspieler die örtliche Amtsgewalt davon überzeugen, dass sie Pilger auf dem Weg nach Wildeklyff waren. In den größeren Ortschaften holten sie manchmal das Jonglierzeug heraus und ließen Kennit und Finn mit der Kollektion von Ringen und Keulen hantieren, um ein paar Kupferstücke einzunehmen, während die übrigen Truppenmitglieder Lokalklatsch und Nachrichten sammelten. Kennit war ganz geschickt, wenn er nüchtern war, aber Finn war eine regelrechte Offenbarung: Selbst mit Fackeln und Messern vermochte er unbeschadet zu jonglieren.
»Wo habt Ihr das gelernt?«, fragte ihn Briony.
»Ich war nicht immer der, der ich jetzt bin, Hoheit«, erklärte ihr Hofhistoriker. »Ich war schon als Kind mit fahrendem Volk unterwegs. Ich habe mein Brot auf mancherlei ehrliche Art verdient ... und auch auf weniger ehrliche. Das Jonglieren habe ich hauptsächlich von meinem ersten Lehrmeister gelernt — Bingolu, dem Kraker, er war der beste Jongleur, den ich je gesehen habe. Die Leute gingen geradewegs in die Kirche, wenn sie ihn gesehen hatten, weil sie glaubten, Zeuge eines Götterwunders gewesen zu sein ...«
Zweierlei hörten sie immer wieder, in jedem Dorf und jeder Stadt des Esterostals, wo sie haltmachten: Dass die syanesischen Soldaten sie immer noch suchten und dass im Norden seltsame Dinge vor sich gingen. Viele, die sie ausfragten, vor allem die Kaufleute und Bettelmönche, die oft dort hinauf kamen, sprachen von einer Art Düsternis, die sich über die Markenlande gelegt habe — nicht nur, was das Wetter betraf, obwohl es dort allen grauer und wolkiger erschienen war, als es der Jahreszeit entsprach, sondern auch eine
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