Die Daemmerung

Lass diesen armen kleinen Kerl los, oder ich reiße dir wirklich alle Federn aus — und den Schnabel dazu!«
    Der Rabe sah ihn vorwurfsvoll an, während er den schuppigen, schwarzen Fuß hob. Ein halbes Dutzend Stoltewichte rannten herbei, um ihren verwundeten Kameraden zu bergen. Als sie ihn in Sicherheit hatten, verschwand das gesamte kleine Völkchen schleunigst im Unterholz.
    »Du bist ekelhaft.«
    »War doch schon bös verwundet, der«, sagte Skurn verdrossen. »Können nicht mehr viel für ihn tun, die andern — und so schön fett war er?«
    Ich nehme meine Gebete von neulich zurück,
erklärte Barrick im Stillen den Göttern.
Ich hatte kein Recht, eure Hilfe für solch einen geflügelten Lumpen zu erbitten.

    Die Worte verängstigter Winzlinge in der Übersetzung eines mürrischen Raben waren nicht leicht zu deuten, doch soweit Barrick dem Ganzen entnehmen konnte, waren er und Skurn auf einer Hügelkette, die sich weit durch den Wald zog, mussten aber wieder hinabsteigen, um jenen Ort zu meiden, der sich Verfluchter Berg nannte. Warum er so hieß, konnte er nicht herausfinden. Skurn schmollte jetzt; dem Vogel war nicht mehr zu entlocken als: »Kommt verrückt oder verändert zurück, jedereiner, der sich dahin verirrt.«
    Aber wenn er die Winzlinge richtig verstanden hatte, war es, hatten sie diesen verrufenen Ort erst einmal hinter sich, nur noch etwa ein Tagesmarsch bis in sicherere Gefilde jenseits des Territoriums der Seidenwickler.
    Obwohl Barrick die Vorstellung, hundert winzige Pfeile ins Gesicht zu bekommen, gar nicht behagt hatte, bedauerte er das Verschwinden der Stoltewichte. Als Kind hatte er viele Geschichten über solch kleine Leutchen gehört, aber er hatte nicht gedacht, dass er sie jemals zu Gesicht bekommen würde — sie liefen ja nicht scharenweise in den Hallen der Südmarksburg herum. Doch es gab sie wirklich, und er war ihnen begegnet. In seinem Leben geschahen so viele seltsame Dinge, die er sich nie hätte träumen lassen.
    Andererseits,
dachte er,
war das meiste, was ich in letzter Zeit erlebt habe, viel schlimmer, als ich es mir je hätte ausmalen können.
    Sie stiegen weiter hinauf, Richtung Hügelkamm, und fanden schließlich einen Felsen, der ein paar Fuß über die Bäume hinausragte, sodass Barrick etwas von der umliegenden Landschaft sehen konnte. Als er müde den Felsen erklomm, rief er sich in Erinnerung, dass das Gefühl vergehender Zeit zwar in einem weiteren Sinn stimmen mochte, aber dennoch vor allem Illusion war: Die Sonne würde nicht bald schwinden, so dunkel der Himmel auch wirken mochte. Ja, er würde bald eine Schlafpause machen müssen, aber es würde nicht dunkle Nacht sein. Nach ein paar Stunden würde er wieder aufstehen, aber die Sonne würde nicht aufgehen. Hier würde sich nichts verändern.
    Und vielleicht ist es ja jetzt in Südmark und den ganzen Markenlanden ebenso,
dachte er.
Vielleicht haben die Qar ja inzwischen diese Schattendecke über die gesamten Menschenlande gezogen. Vielleicht ist das ja auch alles, was Briony und die anderen in Südmark sehen.
Es war ein trüber, entmutigender Gedanke.
    Er blickte über das kabbelige Meer von Bäumen. Die kleinen Leutchen hatten recht gehabt: Er befand sich auf einem langen Hügelkamm, der sich wie ein Damm durch das bewaldete Terrain zog. Weit vor ihm am Horizont, gerade dort, wo der Nebel am dichtesten war, überragte ein einzelner Gipfel Wald und Hügelkamm, eine gewaltige grüne Erhebung, in Nebelschwaden gehüllt. Aus dem Boden ragende Felsen zogen sich um die Kuppe wie abgebrochene Zähne. Vielleicht deshalb, weil er aus dem Nebelmeer ragte und doch seine eigene Nebelwolke hatte, wirkte der Berg alt und geheimnisvoll, wie ein Bettler, der so in Lumpen gehüllt war, dass man ihn erst dann vor dem Hintergrund bemerkte, wenn er sich bewegte.
    Barrick befand, dass er an dem Rat der Stoltewichte nichts zu deuteln hatte: Er verspürte keinerlei Wunsch, diesem Verfluchten Berg auch nur nahe zu kommen.
    Er war erschöpft, aber wach, starrte ins Nichts und wünschte sich, er könnte einschlafen. Der alte Rabe hockte dicht an seiner Seite, in seinem Gefieder verkrochen, und sein Schnarchen war ein leises Pfeifen. Ein leichter Regenschauer ließ die Blätter über Barrick wippen, und darüber spannte sich die stumpfgraue Decke aus Zwielicht.
    Wie lange ist es her, dass ich zuletzt die Sonne gesehen habe?,
fragte er sich. Oder
den Mond? Bei den Dreien, wie können diese Schattenlandkreaturen so leben? Sie sehen ja