Die Daemonen 01 - Die Daemonen
Widersprüchen, an denen entlang man sich erkennen konnte. Die Drehung war unendlich. Die Welt war flach und hohl und dumm. Holte so der Schlund ihn heim?
Plötzlich spürte er, wie etwas auf ihn fiel. Etwas Weicheres als nachrutschende Gebäudetrümmer. Es waren Tropfen. Warme Regentropfen. Salzig, wie aus dem Meer der Insel Kelm geschöpft.
»Mein König. Mein armer König«, sagte eine wohlvertraute Stimme. Gäus musste sich erst durch einen Wald brennender Bäume und das zersplitternde Auflodern einer roten Baronatsgrenze hindurcherinnern, aber dann konnte er diese Stimme einem Gesicht und einem Menschen zuordnen: Tanot Ninrogin, dem königlichen Berater.
Tanot Ninrogin nahm den blutigen Klumpen in die Arme und wiegte ihn. Dabei weinte er. Gäus spürte das geradezu unaushaltbare Verlangen, seinem einzigen und besten Freund auf Erden antworten zu können, ihm irgendwie zu signalisieren, dass er noch nicht völlig tot war. Doch dieser Körper gab überhaupt nichts mehr her. Er war restlos zerstört. Die Tränen waren wie warme Tropfen auf einem kühlen Grabstein.
Etwas Entscheidendes war geschehen. Gäus’ schon längst verzweifelter und haltlos umhertreibender Wille sammelte sich noch einmal. Und auf einmal wurde Gäus sich bewusst, dass er gar keinen Körper brauchte. Dassein Körper – besonders, wenn man dem Dämonenschlund zu entschweben suchte – allenfalls ein Hemmnis war. Ein Mühlstein um den Hals. Gäus war so lange schon Tenmac III. gewesen, dass er – abgesehen von kurzen Ausflügen – ganz vergessen hatte, dass nicht ein Leib sein Ich ausmachte, sondern ausschlieβlich sein Geist.
Er schlüpfte aus dem zerborstenen Klumpen wie aus einem kaputtgetragenen Schuh. Schwarz glänzend, muskulös und mächtig, aber auch durchscheinend und irritierend stand er neben Ninrogin, der sich die Augen rieb und hastig aufstand. »Mein König«, haspelte der Berater.
Gäus legte ihm eine seiner sechs Geisterhände auf die Schulter, eine Berührung, die nicht spürbar, aber deutlich sichtbar war und eine merkwürdige, unirdische Energie enthielt. »Ich freue mich sehr, dass du diese Verwüstung überlebt hast«, sagte er, und Tanot Ninrogin konnte die Stimme hören, als riefe ihn jemand durch mehrere Räume hindurch. »Weiβt du, wo die Göttin abgeblieben ist?«
Ninrogin deutete hinter sich. »Sie ist geschwächt. Liegt in einer schmalen Gasse und schlürft Blut aus dem Rinnstein.«
»Gut, ich werde sie von hier wegführen. Orison-Stadt muss sicher bleiben. Weiβt du noch, wie wir die Belagerung durch Helingerd den Kaatens überstanden haben, ohne dass ein einziger Feind seinen Fuβ über unsere Mauern setzen konnte?«
»Das ist noch gar nicht lange her.«
»Nein, das ist noch gar nicht lange her. Und so wird es weitergehen und bleiben. Vergiss mich nicht, meinFreund. Vergiss nicht, dass es eine kurze Zeit in der Geschichte Orisons gab, in der allen Ernstes ein hässlicher Dämon König war.«
»Das klingt nach Abschied, Majestät. Ihr werdet aber doch noch so dringend gebraucht.«
»Ich bin sehr, sehr schwach geworden. Ich bezweifle, dass ich noch einmal die Kraft haben werde, einen Körper zu übernehmen. Und selbst wenn – der Körper eines Schäfers, der sein Leben in Einsamkeit unter seinen Tieren verbringt, erscheint mir jetzt weit erstrebenswerter als der Körper eines Königs.«
»Aber der Krieg … die Nachwirkungen … die gerechte Verteilung von dem, was noch vorhanden ist …« Die Augen des graubärtigen Mannes füllten sich wieder mit Tränen. Gäus konnte diesen Anblick nicht ertragen, umarmte Ninrogin wie ein Nebel, trat dann durch ihn hindurch und erhob sich in die Lüfte. In einigen Schritt Höhe hielt er noch einmal inne und fragte: »Du bist dir wirklich sicher, dass du nicht mein Nachfolger werden möchtest? Ich könnte mir keinen besseren König für die Menschen denken. Jemand muss sie behutsam wie ein Schäfer aus diesem Krieg herausführen und gegenüber Coldrin stark machen.«
Tanot Ninrogin schüttelte den Kopf. »König zu sein ist furchtbar. Ich bin dem nicht gewachsen. Möglicherweise bin ich ein ganz brauchbarer Berater, aber vielleicht braucht es tatsächlich einen Dämon, um die Last einer Krone zu stemmen.«
Gäus lächelte geisterhaft. Dann schwirrte er davon, angetrieben von unsichtbaren Insektenflügeln.
Er fand die Göttin in einer engen, halbverschütteten Gasse. Sie kroch umher und versuchte Lebenskraft zu ergattern, aber sie konnte nichts mehr finden. Sie
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