Die Darwin-Kinder
unbekümmert Mammuts und Bisons nachgejagt war, Köder für die Höhlenbären ausgelegt und mit seinen Kumpels Beerenschnaps oder Honigwein gesoffen hatte.
Mindestens einmal am Tag gab sich Mitch solchen Gedanken hin, die sich ungewollt in die Leere drängten. Wenn sie nach und nach verschwanden, richtete er den Blick nach innen. Was er dort entdeckte, war ein verängstigtes Kind, das sich im Schatten verbarg. Man weiß nie, wie es ist, ein Kind zu sein, selbst in der Kindheit nicht. Man muss schon selbst Kinder haben, dann kommt die Erkenntnis ganz von selbst. Und dann versteht man es zum ersten Mal.
Der Regen prasselte auf die Holzplanken und hinterließ dort dunkelbraune Flecken. Einige Tropfen perlten an den Grashalmen herunter, die aus den halb vermoderten Schwimmwesten ragten. Seine Hand wanderte am Holz entlang und stieß auf ein interessantes Stück grauer Borke, das etwa fünfzehn Zentimeter lang und verwittert war. Er ließ die Finger darüber gleiten und drückte den korkartigen Rand zusammen.
Kaye stellte sich hinter ihn. Er hatte sie erst gehört, als die Holzplanken knarrten. Sie bewegte sich leise, immer schon.
»Hast du da draußen etwas aufblitzen gesehen?«, fragte sie.
»Einen Blitz?«
»Nein, eher so, als schimmere ein Licht. Da drüben.« Kaye deutete in den Wald.
»Ich seh nichts«, erwiderte Mitch mit zusammengezogenen Brauen.
Kaye seufzte. »Komm ins Haus«, sagte sie. »Stella isst ein bisschen Hühnersuppe. Du solltest auch was essen.«
Es würde ein schöner Anblick sein, seine Tochter wieder Suppe schlürfen zu sehen. Mitch stand auf und ging Arm in Arm mit Kaye zur Hütte zurück.
An der Verandatür empfing sie ein Mann mit schwarzer Baseballkappe, der aus dem Schatten getreten war. Kaye holte tief Luft. Er war jung, höchstens Ende zwanzig, ein kräftiger Typ mit gebräunten Armen. Über einem schwarzen T-Shirt und Khaki-Hosen trug er eine kugelsichere Weste. Er hatte eine kleine schwarze Pistole dabei. In der Hütte bewegte sich etwas, es waren Silhouetten zu sehen. Instinktiv schob Mitch Kaye hinter sich.
Der Mann mit der schwarzen Kappe, der penetrant nach Knoblauch roch, rasselte ein paar Worte herunter. Mitch war zu abgelenkt, um richtig zuzuhören.
»Haben Sie mich verstanden? Ich bin Agent John Allen, Bundesvollzug des Krisenstabs. Wir haben einen Auslieferungs- und Haftbefehl. Strecken Sie die Arme aus, damit ich Ihre Hände sehen kann.« Der Agent blickte an Mitch vorbei nach links. »Sind Sie Kaye Lang?«
Ein anderer Mann, älter als Agent Allen, kam durch die Doppeltür und streckte ein Formular vor, das in eine blaue Mappe geheftet war. Mitch warf nur einen kurzen Blick darauf und konzentrierte sich gleich wieder auf die Vorgänge in der Hütte. Über die Schulter des jungen Mannes hinweg sah er durch die Verandatüren, wie zwei Männer Stella durch die Vordertür herausbrachten. Sie hatten seine Tochter in Plastikfolie gewickelt. Stella maunzte wie ein schwaches Kätzchen.
Mitch hob die Hand. Zu spät fiel ihm das Stück Borke von der Bootsanlegestelle ein, das er immer noch umklammerte.
Der junge Agent riss die Pistole hoch.
Mitch hörte den Abzug schnappen, Wald und Hütte begannen sich um ihn zu drehen. Er hatte das Gefühl, in seinen Arm sei ein riesiges Geschoss eingeschlagen. Das Stück Borke segelte davon. Er landete auf Gesicht und Brust. Ein großer Kerl setzte sich auf ihn, andere pflanzten ihre Laufschuhe an seinem Kopf auf, irgendjemand hob Kayes Füße vom Boden. Als Mitch aufblicken wollte, stieß der große Kerl sein Gesicht in den Kies der Auffahrt. Er konnte nicht atmen – der Einschlag der Kugel und sein Sturz hatten ihm alle Luft genommen. Sie verschränkten ihm die Hände auf dem Rücken. Irgendetwas zerriss in seiner Schulter, das tat höllisch weh. Alle sprachen gleichzeitig und durcheinander, zwei Leute brüllten irgendwas.
Er hörte, wie Kaye schrie. Es hatte gar nicht schlimm geregnet.
Und der See und die Hütte waren wunderschön gewesen. Er hätte es besser wissen müssen. Als Mitch sein eigenes Blut roch, begann er zu würgen.
53
Pennsylvania/Arizona
Stella Nova stand auf wackligen Beinen in der lang gestreckten Gemeinschaftsdusche, in der es dampfte, und sah zu, wie rosafarbenes Desinfektionsmittel in den Abfluss gurgelte.
Männer und Frauen, die Masken, Schutzhauben aus Plastik und Gummihandschuhe trugen und mit Klemmbrettern und Kameras bewaffnet waren, gingen die Reihen ab und fotografierten die Kinder, während sie
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