Die Darwin-Kinder
nackt da standen.
»Name?«, fragte eine stämmige junge Frau mit heiserer Stimme.
»Stella«, erwiderte sie. Die Gelenke taten ihr weh.
Irgendwo in der Klinik gab man ihr Spritzen und gurtete sie auf einem von Vorhängen umschlossenen Bett fest. Sie blieb etwas mehr als einen Tag da, bis sie die letzten offensichtlichen Anzeichen der Krankheit überwunden hatte.
Als sie einmal losgebunden wurde, damit sie die Bettpfanne benutzen konnte, versuchte sie aufzustehen und wegzugehen.
Eine Krankenschwester und ein Polizist fingen sie ab. Da sie Stella nicht berühren wollten, benutzten sie lange Plastikstäbe, um sie zurück ins Bett zu treiben.
Am nächsten Tag wurde sie auf eine Rollbahre geschnallt und in einen weißen Transporter verfrachtet, der sie zu einem großen Lagerhaus brachte. Dort sah sie Hunderte von Kindern in Reihen auf Feldbetten liegen. Im hinteren Teil des Lagerhauses waren zerbrochene, verstaubte Lattenkisten aufgestapelt. Auf dem Boden wurden ihre Füße schwarz. Das ganze Gebäude roch nach altem Holz, Staub und Desinfektionsmitteln.
Man gab ihr eine Schnabeltasse mit Suppe, kalter Suppe, die grässlich schmeckte. Die ganze Nacht hindurch rief sie nach Kaye und Mitch. Ihre Stimme klang so heiser und schwach, dass Stella sie selbst kaum hören konnte.
Die nächste Fahrt – in einem Bus quer durch die Wüste, durch viele kleine Ortschaften und Städte – dauerte einen Tag und eine Nacht. Im Bus, in dem sie gemeinsam mit anderen Mädchen und Jungen reiste, musste sie selbst beim Schlafen aufrecht auf einer Polsterbank sitzen.
Sie hörte, wie sich der Wachmann und der Fahrer über die nächste Stadt, Flagstaff, unterhielten und begriff, dass sie jetzt in Arizona war. Als der Bus abbremste, von der zweispurigen Schnellstraße abbog und auf eine kleinere Straße holperte, entdeckte sie in einem steinernen Bogen über einem schweren Stahltor glänzende Metallbuchstaben, die besagten: Spezialschule Sable Mountain, Einrichtung des Krisenstabs.
Sie verlor jedes Zeitgefühl, die Zeit schien nur noch aus zusammenhanglosen Episoden zu bestehen. Die Erinnerung und die gegenwärtigen Gerüche vermischten sich, sodass es ihr vorkam, als sei ihr früheres Leben, ihr Leben mit Kaye und Mitch, zusammen mit den Desinfektionsmitteln in den Abfluss gespült worden.
Nachdem die Betreuer die Kinder nochmals fotografiert und ihre Namen notiert hatten, trennten sie die Jungen von den Mädchen und gaben allen Krankenhauskleidung: Flügelhemden, die hinten offen waren. Die Mädchen mussten eine Schlange bilden und wurden ins Freie geführt. Inzwischen war es früher Abend. Die Neuankömmlinge, insgesamt waren es zwölf, marschierten auf einem betonierten Fußweg zu einem Wohnwagen, in dem sich bereits vierzehn Mädchen befanden.
Eines der Mädchen stellte sich neben das Bett, in dem Stella lag, und begrüßte sie mit den Worten: »Hallo.
Entschuldigung.«
Stella blickte auf. Das Mädchen war hoch aufgeschossen, hatte schwarze Haare und große, tiefgründige braune Augen, die mit Grün gesprenkelt waren.
»Wie fühlst du dich… kkh?«, fragte das Mädchen, das offenbar einen Sprachfehler hatte.
»Wo bin ich?«
»Es ist eine Art… kkh… von Heim.«
»Wo sind meine Eltern?«, fragte Stella, ehe sie sich bremsen konnte. Vor Verlegenheit und Angst wurde sie rot.
»Ich weiß es nicht.«
Die vierzehn Mädchen scharten sich um die Neuankömmlinge und streckten ihnen die Hände entgegen.
»Berührt unsere Handflächen«, sagte das schwarzhaarige Mädchen. »Dann geht’s euch gleich besser.«
Stella vergrub ihre Hände in den Achselhöhlen. »Ich möchte wissen, wo meine Eltern sind«, erklärte sie. »Die haben auf sie geschossen, ich hab’s gehört.«
Das schwarzhaarige Mädchen schüttelte bedächtig den Kopf und berührte Stella mit der Fingerspitze unter der Nase, sodass sie zurückfuhr. »Du bist jetzt eine von uns. Hab keine Angst.«
Aber Stella hatte Angst. Es roch hier so seltsam. Der Raum war voller Mädchen und alle produzierten Fieberdüfte, weil sie die Neuankömmlinge beruhigen wollten. Als Stella merkte, wie der Geruch seine Wirkung tat, wollte sie nur noch auf und davon. Das hier war überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
»Es ist schon o… kkh… kay«, sagte das schwarzhaarige Mädchen. »Wirklich. Ist ganz okay hier.«
Stella schrie nach Kaye. Sie war stur. Es sollten Wochen vergehen, bis sie aufhörte, nachts zu weinen und zu schreien.
Sie versuchte, sich gegen das
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