Die Delegation
Kamera geht näher heran, aber Dr. Goldstone hat diesen kleinen Gegenstand bereits weggenommen, hält ihn gegen das Licht, gibt ihn weiter an Roczinski. Miß Cumber versucht zu erklären.
»I found it in my pocket two or three weeks ago … I didn’t know, what it was, I was wondering …« Roczinski hat den kleinen Gegenstand auf seinen Handrücken gesetzt: eine Pyramide aus Glas, wie ein Kristall. Er präsentiert sie der Kamera.
»Diesen Gegenstand hat Miß Cumber vor einigen Wochen in ihrer Tasche gefunden. Damals hatte sie keine Ahnung, wie der in ihre Handtasche gekommen sein könnte. Jetzt erinnert sie sich … Offensichtlich Glas – federleicht …«
Roczinski will die Pyramide wieder abnehmen, aber sie haftet fest auf seinem Handrücken. Er dreht die Hand. Die Pyramide hängt nach unten – aber sie fällt nicht. Sie haftet. Er muß sich bemühen, sie von seiner Haut abzulösen. Er gibt Miß Cumber die Pyramide zurück. Sie behält sie in der Hand, spielt damit.
Dr. Goldstone hat das Tonbandgerät wieder eingeschaltet. Das Frage-und-Antwort-Spiel beginnt von neuem. Roczinski geht zum Lautsprecher, hört zu, übersetzt:
»Ihr Wagen steht immer noch am alten Platz, mitten auf der Straße, mit offener Tür. Und immer noch läuft der Motor. Sie steigt ein.
Da stehen zwei dieser Leute plötzlich wieder neben ihr. Sie ist wie gelähmt. Einer nimmt ihre Hand, öffnet sie, sieht die kleine Kristallpyramide.
Sie will sie zurückgeben – nein! – sie soll sie behalten. Er lächelt – ja, es ist tatsächlich ein Lächeln. Sie soll sie behalten – als Rätsel – als Frage?«
34
»As a riddle – as a question …« Als Rätsel – als Frage …
Charles Baker hatte das Protokoll der Rollen drei und vier bis zu diesem Satz der Lehrerin Cumber durchgelesen. »Das sieht nach ESP aus«, meint er und fügt hinzu, da wären wir bei ihm im Prinzip richtig, obwohl Pratt in Charlottesville an der Medical School der Universität von Virginia besser ausgerüstet sei. ESP? »Extrasensory Perception!«
Übersinnliche Wahrnehmung, besser noch ›außersinnlich‹, Erkenntnisse und Informationen gelangen in unser Bewußtsein außerhalb des üblichen Weges durch die bekannten Sinnesorgane. ›Außersinnlich‹ hieß aber auch, daß man sich nicht ohne weiteres zu der Ansicht bequemen wollte, daß so etwas wie ein ›sechster Sinn‹ als Normalfall existiert. Denn es würde einige Mühe machen, ihn mit den Methoden der klassischen Wissenschaft nachzuweisen.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Julie hinzuziehen.«
Baker ging hinaus, Julie zu suchen. Wer war Julie? Wer ist Baker?
Durham in North Carolina liegt eine gute Tagesreise südlich von Washington. Der Tip stammte von Dr. Goldstone, der uns ansonsten elegant hatte abblitzen lassen. Ja, wir waren bei ihm in Washington gewesen, in der Hoffnung, von ihm Näheres über Miß Cumber und ihr Erlebnis zu erfahren. Aber Psychotherapeuten nehmen ihre Schweigepflicht mehr als genau …
Baker war Assistent an der Duke-Universität, leitete eine Art Forschungsteam für Parapsychologie und ein entsprechendes Labor, das der Pionier dieser jungen Wissenschaft, J. B. Rhine, vor etwa dreißig Jahren gegründet hatte. Baker war Schüler von Rhine.
Und Julie war seine Mitarbeiterin, Mitte bis Ende zwanzig, sehr apart, eine Französin aus Cherbourg, hieß eigentlich Juliette, was für Amerikaner ein Zungenbrecher ist, und überragte die meisten um Haupteslänge. Eine Normannin, wie sie lachend zugab, aber keinesfalls ein Kleiderschrank, trotz ihrer – na wieviel – »Einsfünfundachtzig?« – »Einsvierundachtzig, bitte, ja!« – Bitte. Aber ohne Schuhe vermutlich.
Sie sprach perfekt deutsch mit jenem charmanten Akzent, der so gut bei uns ankommt, daß ihn unsere Schauspielerinnen mühsam erlernen, wenn mal eine Rolle Minouche oder Gigi auf sie zukommt.
Juliette hatte ihre langen dunklen Haare zu einem riesigen Knoten gebunden, vermutlich, um noch einige Zentimeter größer zu erscheinen. Sie nahm uns offensichtlich nicht ganz ernst; sie lachte immerzu, auch als sie das Protokoll der Hypnose durchlas.
Erst zwei Tage später habe ich begriffen, daß sie sich keineswegs lustig gemacht hatte – nicht über uns, ihre Umgebung oder gar über ihre Wissenschaft; sie freute sich nur einfach, sie war glücklich und mit der ganzen Welt im Einklang. So was gibt’s.
»Sie kommen aus München – fabelhaft! Erzählen Sie, was ist passiert in Rosenheim?«
»In Rosenheim?
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