Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Dille ihr dann noch auf den Arm. Ich fand, diese Knuffe sahen ganz schön schmerzhaft aus – aber Petra grinste nur.
Susann und Petra ignorierten einander mehr oder weniger. Worüber hätten sie auch reden sollen?
Und Bernhard?
Bernhard war etwas Besonderes. Er war so klug, dass einem manchmal schwindelig wurde. Er wusste so unendlich viel. In der Schule, im Unterricht, behielt er das aber für sich. Deshalb konnte er auch nicht aufs Gymnasium – die Lehrer ahnten nichts von seinem unentwegt ratternden Hirn. Bernhards Klugheit, sein Wissen, war sein Privateigentum. Ich glaube, es war alles, was er hatte, und deshalb überlegte er sehr sorgfältig, mit wem er es teilte. So richtig warm konnte man mit Bernhard nicht werden. Es ist schwer, jemanden seinen Freund zu nennen, wenn er nie, wirklich nie etwas von sich selbst erzählt. Niemand von uns war je bei Bernhard zu Hause gewesen. Seinen zehnten Geburtstag hatten wir zum Beispiel auf der Wiese am Luisenhof gefeiert – mit Cola und Chips und einer Flasche Erdbeersekt, die Bernhard von seiner Mutter stibitzt hatte und von der wir alle (außer Susann) einen hastigen, aufgeregten Schluck genommen hatten.
Wir hatten Bernhards Eltern schon lange nicht mehr gesehen. In der Schnaps-Clique am U-Bahnhof fehlten ihre roten Köpfe nämlich schon seit Wochen. Doch natürlich fragten wir ihn nie. Wir sagten nicht: »Hey, Bernhard, machen deine Alten Urlaub vom Saufen?« Wir taten so, als ob nichts wäre. Und nur zur Hälfte zeigten wir damit so etwas wie Taktgefühl und Diskretion – tatsächlich war es uns ziemlich gleichgültig, was mit Bernhards Eltern los war. Wir waren zehn Jahre alt, unser Radar für die Gefühle anderer Menschen war noch nicht vernünftig justiert. Wir dachten wahrscheinlich, Bernhard seien seine Eltern genauso scheißegal wie uns.
Eines Tages erzählte es mir meine Mutter: Bernhards Vater war gestorben! Die Leber. Meine Mutter hatte es von einer Frau beim Bäcker gehört. Bernhards Mutter hatte sich nach der Beerdigung so dermaßen mit Alkohol zugemacht, dass sie noch Tage später zu nichts anderem in der Lage war, als sabbernd in der Wohnung herumzuliegen. »Es ist von Tag zu Tag weiter bergab mit ihr gegangen«, erklärte meine Mutter mit seltsam belegter Stimme, »und schließlich ist sie irgendwo eingewiesen worden.«
»Und wo?«, wollte ich wissen.
»Krankenhaus, Psychiatrie. Irgend so etwas.«
»Ja … Und was ist jetzt mit Bernhard?«
Meine Mutter sah mich erstaunt an. »Ja, wisst ihr das denn nicht?« Sie schüttelte ob unseres offenkundigen Kommunikationsdefizits den Kopf. »Bernhard wohnt seitdem bei seiner Oma.«
Ich berichtete den anderen davon, und wir überlegten lange, ob wir Bernhard sagen sollten, dass wir es wussten. Dille und Petra fanden, das ginge uns überhaupt nichts an. Ich wusste nicht, was richtig wäre. Sven fand, wir sollten einen Blumenstrauß kaufen und ihm herzlich Beileid sagen, weil man das eben so mache. Und Susann sagte gar nichts. Als wir Bernhard am nächsten Tag auf der Wiese trafen, ging sie einfach zu ihm und nahm ihn wortlos in den Arm. Sie hielt ihn fest. Ganz lang. Und sie strich ihm dabei über den Kopf. »Sei nicht traurig«, sagte sie schließlich. »Wir sind für dich da.« Und wir alle stapften nervös von einem Bein aufs andere und hatten keine Ahnung, was wir tun sollten. Und Bernhard? Der ließ sich umarmen, legte den Kopf ein wenig auf Susanns Schulter und sagte gar nichts. Wir haben nie wieder, in unserem ganzen Leben nicht, über Bernhards Vater gesprochen.
* * *
»Mama«, fragte Susann, während sie am Küchentisch saß und ihrer Mutter beim Kartoffelschälen half, »woran merkt man, dass man jemanden liebt?«
Susanns Mutter verschluckte sich an einem Stück roher Kartoffel, das sie sich gerade in den Mund gesteckt hatte: »Wie bitte?«, fragte sie.
»Wie merkt man Liebe?«, wiederholte Susann.
Susanns Mutter rechnete noch einmal nach: Ja, ihre Tochter war erst zehn! Da fragt man doch so etwas noch nicht, oder?
»Also, bei deinem Vater und mir, da …«
»Ja?« Susann sah sie interessiert an.
»Man merkt einfach, dass dieser eine Mensch anders ist als die anderen. Dass er, ach, ich weiß nicht … dass er bei einem irgendeinen Knopf drückt …«
»Obwohl er das selbst vielleicht gar nicht merkt?«
»Ja«, lächelte Susanns Mutter, »das ist möglich. Liebe kommt einfach, die steuert niemand.«
»Und geht Liebe manchmal auch wieder weg?«
»Tja«, Susanns Mutter
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