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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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sich wieder gestritten, wie so oft. Und sein Vater verbrachte die Nacht dann immer hier, in der Stube, trank Bier und sah fern, bis sein Kopf sich ausschaltete. Auf dem Fernseher flimmerte das Testbild. Nicht mehr lange, wie Bernhard wusste. Gleich würde sie beginnen, die Live-Übertragung der ersten Mondlandung. Heute würde ein Mensch seinen Fuß dort hinsetzen, wo noch nie einer vor ihm gewesen war! Und er, Bernhard, würde Zeuge dieses größten Ereignisses aller Zeiten sein!
    Bernhard nahm noch einen Schluck Cola. Das Testbild verschwand. Bernhard sah Bilder vom Raumfahrtgelände in Kap Kennedy. Er hörte einen Sprecher, offenkundig aufgeregt, stolz, dieses Ereignis kommentieren zu dürfen. Bernhard starrte auf den Bildschirm. Er versuchte, nicht zu zwinkern. Nichts wollte er verpassen! Er hörte sein rasendes Herz bis in den Kopf pochen. Und um 3 Uhr 56 betrat Neil Armstrong dann den Mond!
    Bernhards Vater schnarchte.
    Bernhard weinte.

1970
    A ls ich zehn Jahre alt war, hatte ich mit meinen Eltern irgendwelche Verwandten im Odenwald besucht. Da saßen die Erwachsenen, stießen mit Weingläsern an, rauchten, tratschten über Tante Schießmichtot und Onkel Dingsda, redeten über ihre Autos, ihre Urlaube, über diese verrückten Hippies, die Amerika unsicher machten, über einen Radler namens Eddie Merckx und die Brasilianer, die schon wieder die Fußball-WM gewonnen hatten, über Willy Brandt, der in Polen offenbar hingefallen war und sich das Knie wehgetan hatte oder so ähnlich, über Baader-Meinhoff, über all ihr Erwachsenenzeug. Mit anderen Worten: Es war scheißlangweilig! Also checkte ich das Bücherregal meiner Verwandten ab. Ich hatte schon immer viel gelesen: Comics, Karl May, Enid Blytons gesammelte Fünf Freunde -Abenteuer. Aber so etwas suchte ich hier natürlich vergeblich. Da mir alles aufregender erschien, als dem Gesülze der Großen zu lauschen, schnappte ich mir ein unscheinbares Bändchen mit Kurzgeschichten von einem gewissen J. D. Salinger. Die erste hieß Ein hervorragender Tag für Bananen-Fisch , und das klang viel versprechend, vermutlich komisch. Ich las sie. Und danach war nichts mehr wie zuvor!
    Dieser Herr Salinger und sein gar nicht komischer, sondern zutiefst rührender Bananenfisch hatten mir gezeigt, dass gute Bücher nicht von Vorfällen handeln, sondern von dem, was die Menschen bei diesen Vorfällen empfinden. Ich begann zu ahnen, dass Worte mehr konnten, als bloß Fakten zu transportieren. Und ich brannte darauf, weitere Bananenfische zu finden.
    Wieder zurück in Hamburg, kaufte ich mir von meinem Taschengeld Salingers Buch und las es an einem einzigen Nachmittag noch einmal. Dann lieh ich es Bernhard, drängte ihn, die Bananenfisch-Geschichte noch am selben Abend zu lesen. Ich wollte meine Euphorie mit jemandem teilen. Und wer sonst als der kluge Bernhard hätte meine Aufregung verstehen können?
    »Das ist eine traurige Geschichte«, fand Bernhard am nächsten Tag. »Melancholisch.«
    »Melangwas?« Ich sah Bernhard fragend an.
    »Melancholisch. Das heißt … na ja, sehr traurig«, erklärte er. »Erwachsenenbücher sind oft traurig.«
    Erwachsenbücher! Ja! Das war es, was ich ab sofort wollte. Adios, Winnetou!
    Noch am selben Tag gingen Bernhard und ich in die Stadtbücherei und wanden uns mit stolzgeschwellter Brust und erhobenem Kopf nicht nach links in die Kinderecke, sondern nach rechts, ins Reich der Literatur. Doch bevor wir auch nur das Regal A–Br erreichten, bremste uns die Bibliothekarin, die ich – vielleicht ungerechterweise – als fette Matrone mit Dutt in Erinnerung habe: »Holla, holla«, dröhnte sie. »Wo wollt ihr denn hin?«
    »Ich suche Bücher von J. D. Salinger«, sagte ich tapfer – sprach den Dichternamen aber deutsch, also Jott Deh Sah-lihng-er aus, was mich bedauerlicherweise leicht inkompetent erscheinen ließ.
    »Wir s-sind nämlich m-m-mittlerweile zu g-groß für K-k-kinderbücher«, sekundierte Bernhard.
    Doch das sah das Dutt-Monster anders. »Diese Abteilung ist ab vierzehn. Ihr seid noch keine vierzehn. Ihr stört die Erwachsenen«, nölte sie tief und betonungslos und schubste uns dann zurück zu Pitje Puck, zu Hanni und Nanni, zu den drei ???.

    Meine Mutter löste das Problem: Sie stürmte zwei Tage nach diesem Vorfall, Bernhard und mich im Schlepptau, in die Bücherei und hielt der Literaturbewacherin einen strengen Vortrag. Über den freien Geist, über Kinder, die man in ihrer Neugier nicht bremsen dürfe, und über

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