Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
zögerte, »Doch, ja, manchmal.«
»Könnten Papa und du eines Tages aufhören, mich zu lieben?«
Susanns Mutter legte das Kartoffelschälmesser zur Seite, stand auf und umarmte ihre Tochter. »Niemals!«, sagte sie laut. »Eltern lieben ihre Kinder auf ewig!«
Susann dachte nach. »Nicht alle«, sagte sie schließlich. »Bernhards Eltern nicht! Sein Papa hat sich nie um ihn gekümmert. Und seine Mama lässt ihn jetzt auch im Stich.«
Susanns Mutter seufzte. »Das ist alles sehr kompliziert, Susi. Manchmal reicht die Kraft bei den Leuten nicht, um ihre Liebe zu zeigen. Manchmal lieben sich Leute selbst so wenig, dass sie die Liebe für andere Leute gar nicht erst finden. Aber irgendwo ist sie. Bernhards Eltern haben ihren Sohn bestimmt geliebt, sie wussten vielleicht nur nicht, wie sie die Liebe aus sich rauslassen sollten.«
»Glaubst du, Bernhards Mama liebt ihn immer noch?«
Susanns Mutter, die neulich bei Edeka gehört hatte, dass Bernhards Mutter angeblich völlig aus der realen Welt ausgestiegen sei, dass sie in der geschlossenen Anstalt von Ochsenzoll sitze und dort bloß die Wand anglotzen würde, wand sich. Aber dann sagte sie: »Ja. Bestimmt!« Was wäre das auch für eine Antwort, einem Kind zu erzählen, dass Eltern ihre Kinder schlicht und ergreifend vergessen können!
»Svens Papa liebt Sven auch nicht mehr. Der wäre sonst nicht weggegangen!«
»Svens Vater ist nicht wegen Sven gegangen«, sagte Susanns Mutter, die alles dafür gegeben hätte, jetzt einfach nur stumm Kartoffeln schneiden zu können.
»Und warum hat er sich nie wieder bei Sven gemeldet? Sven weiß nicht einmal, wo sein Papa jetzt wohnt!«
Susanns Mutter schwieg. Ihrer Tochter zu erklären, was man von den verschiedenen Geschichten zu halten hatte, die sich um das Verschwinden von Svens Vater rankten, war definitiv keine Aufgabe, die man beim Kartoffelschälen erledigen konnte.
»Wieso?«, drängte Susann.
»Das ist … alles … kompliziert«, wiederholte sich Susanns Mutter, ging zur Spüle und hielt den Topf mit den geschälten Kartoffeln unter den Wasserhahn. »Sehr, sehr kompliziert!«
* * *
Es war Dille zu verdanken, dass wir als Kirschkernspuckerbande bekannt wurden. Er war es nämlich, der sich die Afrika-Show ausgedacht hatte.
Damals erzählten alle Eltern ihren Kindern, die ihr Mittagessen nicht aufessen wollten, dass sie froh sein sollten, dass sie überhaupt etwas auf den Tisch bekämen. »In Afrika«, hieß es dann immer, »da hungern die Kinder! Die würden alles für so einen Sauerbraten geben!«
Oder Blumenkohl.
Oder Leber.
Oder Gemüsesuppe.
Oder was für einen Schweinkram uns die Erwachsenen auch immer vorsetzten.
»Also«, schlussfolgerte Dille eines Nachmittags, »wenn die Alten alle so verrückt nach den ewig hungrigen Kindern aus Afrika sind, dann sollten wir ihnen auch ein paar hungernde Kinder aus Afrika geben.« Und so gingen wir eines Tages über den Wochenmarkt, der jeden Donnerstag direkt neben unserer Stammwiese am Luisenhof stattfand, und versuchten so ausgemergelt wie möglich auszusehen. Dille hatte extra Klaus mitgebracht, weil er fand, einem mongoloiden Hungerkind könne nun wirklich niemand etwas abschlagen. Wir alle hatten Klaus eine halbe Stunde lang versucht beizubringen, so armselig wie möglich dreinzuschauen. Am Ende schnitt Klaus hinreißend bescheuerte Grimassen, humpelte und jammerte mit Hingabe und winselte in regelmäßigen Abständen: »Hunger! Hunger!«
»Du kannst ruhig dabei sabbern«, sagte Dille. Und Klaus kicherte.
Die Leute hinter den Marktständen fanden uns natürlich furchtbar! Wir zeigten flehend auf die aufgeschnittenen Apfelsinenhälften, die die Obsthändler zu Dekorationszwecken auf ihren Kisten drapiert hatten. Wir bettelten den Brotverkäufer an. Wir standen vor dem Wagen des Schlachters und ächzten: »Wurst! Wurst!«
»Oder Würstchen!«, keuchte Dille mit todernster Stimme.
Sven und Susann hielten sich bei der Show ziemlich im Hintergrund. Dille, Petra und ich zogen jedoch eine Riesennummer ab. Und erstaunlicherweise fand auch der scheue Bernhard ziemlichen Gefallen an unserer albernen Darbietung. »Wir b-brauchen Vitamine«, stammelte er theatralisch. »Die Ersten von uns ha-haben b-bereits Skorbut!«
Die meisten Händler scheuchten uns davon. Einige pöbelten uns regelrecht an. Und viele der Kunden warfen uns missbilligende Blicke zu, weil sie selbst noch den Krieg miterlebt hatten und fanden, dass man mit Hunger keine Späße treiben sollte.
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