Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
die Tatsache, dass sie ein sehr beharrlicher Mensch sei und es ihr überhaupt nichts ausmachen würde, einmal die Woche vorbeizuschauen und diesen Vortrag wieder und wieder und wieder zu halten. Zähneknirschend rückte die Hüterin der Hochliteratur schließlich ihren Dutt zurecht und gab nach. Wenn meine Mutter mal mit Saddam Hussein zusammentreffen könnte, würde sie ihm vermutlich dermaßen Respekt einflößend den Kopf waschen, dass sich der Nahe Osten unverzüglich in eine Oase des Friedens verwandelt.
Da stand ich nun also, zwischen Dutzenden von Bücherregalen, deren oberste Reihen ich noch nicht einmal erreichen konnte. Das erste Buch, das ich mir auslieh, war Salingers legendäres Der Fänger im Roggen . Bernhard las es auch – und er machte sich schlau. Er fand heraus, dass Salingers Roman in den USA als das ultimative Buch über das Erwachsenwerden galt. Und ich verstand, wieso: Auch wenn ich vieles, was ich da las, nicht wirklich verstand, auch wenn mir speziell die Bedeutung der sexuellen Anspielungen nicht komplett klar war – ich ahnte, worauf es alles hinauslief: In wenigen Jahren würde ich ein sehr, sehr verwirrter Junge sein! Und ich konnte es kaum erwarten.
Später lernte ich andere Legenden kennen: Hermann Hesse, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch. Es war das einzig Frühreife, was ich je zu Stande brachte: Ich las Siddharta vier Jahre bevor es in der Schule auf dem Lehrplan stand.
Ich kam aufs Gymnasium. Genau wie Sven und Susann; Bernhard, Dilbert und Petra wurden Realschüler. Ich habe mich schon damals über diesen Begriff gewundert: Realschule. Was soll das heißen? Dass dort die realen Schüler waren, dass dort die echten und wirklichen Dinge gelehrt wurden? Was waren dann wir Gymnasiasten? Fiktiv -Schüler?
Obwohl wir in verschiedene Bildungszwingburgen geschickt wurden, verloren wir uns nicht aus den Augen. Wir blieben ein Team, wenn die Bande zwischen uns auch unterschiedlich stark geknüpft waren. Sven und Susann waren nach wie vor ganz dicke. Mein Verhältnis zu Susann war ambivalent. Irgendwie erschien es mir nicht mehr wirklich wichtig, ob sie meinen Einfluss auf Sven schmälerte. Klar, sie war immer noch eine Tussi, aber irgendwie … ich weiß nicht. Manchmal lächelte sie mich so komisch an. Ich dachte immer noch oft an den Kuss im Moos. Sie machte mich nervös. Susann.
Absolut unzertrennlich waren Petra und Dilbert. Die kabbelten sich unentwegt scherzhaft, so wie es nur Menschen tun, die sich ganz besonders mögen. Sie wünschten sich dieselben Rennräder zum Geburtstag, sie waren zwei echt starke Kumpel. Wir alle mochten sie. Dilbert war zu jedem von uns gleichermaßen freundlich: Er hatte immer einen Witz parat, war hilfsbereit, zu jedem Scheiß aufgelegt. Dilbert, das war offensichtlich, wollte von jedem gemocht werden. Und es war leicht, ihn zu mögen – abgesehen davon, dass er manchmal echt zu viel quatschte. Manchmal brachte er seinen kleineren Bruder Klaus mit. Der war geistig behindert. Ehrlich gesagt wussten wir alle nicht so recht, was wir mit ihm anfangen sollten. Nur Susann nahm sich richtig Zeit für ihn, beluscherte ihn wie ein Baby. Ich fand das irgendwie würdelos, aber Klaus schien es zu mögen. Manchmal umarmte er sie – ohne Vorwarnung, ganz hektisch, mit großer Wucht, umklammerte sie, bis sie nach Atem rang und ihr Kopf hochrot wurde. Aber sie lachte. Und manchmal küsste sie Klaus dann auf die Stirn. Susann war eine ziemliche Küsserin. Zwei-, dreimal am Tag schien sie einfach jemand schmatzen zu müssen. Vielleicht, dachte ich, war dieser Kuss im Moos auch nur so ein flüchtiges Bussi, das nichts zu bedeuten hatte. Vielleicht sollte ich es einfach vergessen.
Petra küsste nicht. Und sie war auch sonst nicht unbedingt der herzliche Typ. Mit Klaus redete sie so gut wie überhaupt nicht, wachte aber mit Argusaugen darüber, dass niemand sich über ihn lustig machte. Überhaupt benahm sie sich uns allen gegenüber wie eine Beschützerin. Sie war wilder als wir, mutiger, stärker. Und sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie das wusste. Aber sie ließ uns auch spüren, dass wir Luschen ihr aus unerklärlichen Gründen etwas bedeuteten. Was auch immer.
Dilbert war der Einzige, den sie offenbar nicht für ein Weichei hielt. Gelegentlich nahm sie Dille in den Schwitzkasten – und nur selten konnte der sich aus ihm befreien. Erst wenn er keuchte und mit seinen Armen wedelte, ließ sie ihn los. Und dann lachten die beiden. Gelegentlich knuffte
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