Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Joint drehte oder sonst irgendetwas tat, was ihr Furz nie tun würde. Es waren ernste, tiefe Blicke. Erstaunlich, aber wahr: Susann war es wirklich wichtig, was aus mir werden würde.
Was aus Sven werden sollte, war allerdings eine noch interessantere Frage. Der hatte tatsächlich eine Tischlerlehre begonnen, behauptete, dass es ihm wirklich Spaß mache, und gab sich alle Mühe, locker zu wirken. Aber selbst ich, der damals das Feingefühl einer Planierraupe besaß, spürte, dass Sven etwas bedrückte. Er war so still wie noch nie. Wir erfuhren so gut wie nichts mehr aus seinem Leben.
Sven hatte keine Freundin. Soweit ich das einschätzen konnte, war er tatsächlich im Alter von achtzehn Jahren noch Jungfrau. Doch während man diese Tatsache vielleicht noch unter den Rubriken ›schüchtern‹ oder ›Spätzünder‹ ablegen konnte, irritierten uns andere Dinge so richtig: Sven hatte sich bislang elfmal Saturday Night Fever angeschaut und trug neuerdings diese furchterregenden Polyesterhemden mit den spitzen, langen Kragen, die an John Travolta nur zweifelhaft, an Sven allerdings exorbitant affig aussahen. Svens Lieblingsplatte war Evita – und er summte ständig Don’t cry for me Argentina .
»Fällt einem dazu noch etwas ein?«, fragte ich Dille mal, doch der war viel zu sehr damit beschäftigt, dem kleinen Jan ein halbes Pfund Apfelmus vom Mund, aus den Haaren und vom Pulli abzuwischen.
Heiligabend verbrachte ich bei meinen Eltern. Das war zwar uncool, aber es gab Geschenke und leckeres Fondue, und auch wenn man mich mit glühenden Eisen hätte foltern müssen, damit ich es eingestehe: Ich mochte diese plüschige Familienweihnacht! Es war kuschelig! Da saß ich also mit meinen bunt gefärbten Zottelhaaren, meinen insgesamt sieben Ohrringen, meinen mit Kajalstrich umrandeten Augen und einer schwarz-orange gestreiften, völlig durchlöcherten Hose – und grinste, wenn mein Papa die Schallplatte auflegte, auf der die Kastelruther Spatzen ein Medley der schönsten Festtagsmelodien sangen.
Wir waren bereits beim Nachtisch angelangt, als meine Mutter plötzlich aufsprang und sich an den Kopf schlug: »Das hätte ich ja fast vergessen!«
»Was?«, fragte ich.
Statt einer Antwort lief meine Mutter in den Flur, wühlte in der Schublade des Telefontischchens und kam mit einem Brief zurück. Ein blauer Luftpostumschlag.
»Der ist für dich. Der ist schon letzte Woche angekommen!«, sagte sie und drehte ihn respektvoll hin und her. »Aus Brasilien!«
Brasilien?
Ich nahm den Brief, musterte ihn kurz und erkannte die Handschrift auf dem Umschlag: Es war Bernhards! Bernhard in Brasilien? Hastig riss ich das Kuvert auf und las:
Hallo, Kirschkernspucker!
So viele Straßen, die man noch abfahren kann! Indien war grandios, ich habe Dinge gesehen, die ich nicht zu träumen wagte! Aber im letzten Monat lief das Rote-Kreuz-Projekt aus, drei Brunnen und ein kleines Krankenhaus (na ja, eigentlich eine Wellblechhütte mit vier Betten) waren fertig. Es gab nichts mehr zu tun. Das heißt, es gäbe schon noch mehr als genug, was man für die Menschen dort tun könnte, aber das gesamte Team reiste ab, und mein Hindi ist zu schlecht, um in Indien alleine weiterleben zu können.
Zurück nach Hamburg kam natürlich nicht in Frage. Das ist, als hätte man Champagner gekostet und würde dann freiwillig zu Billigwein zurückkehren. Das Leben, das ich in den letzten paar Monaten in Indien geführt hatte, war so befriedigend, so aufregend und wahrhaftig, dass ich nicht mehr in den grauen, banalen Trott zurückkehren kann.
Ich weiß jetzt, dass man Dinge bewegen kann.
Ich weiß jetzt, wie glücklich man wird, wenn man etwas erschafft.
Und ich weiß jetzt, wie viel Dinge es zu entdecken gilt.
Vom Roten Kreuz gab es für meine Arbeit kein Geld, wohl aber eine »Aufwandsentschädigung«. Die reichte für ein Flugticket nach Brasilien. Wieso Brasilien?
Wusstet Ihr, dass hier jeden Tag eine Waldfläche in der Größe eines Fußbaldfeldes gerodet wird? Es klingt unglaublich, aber Wissenschaftler sagen, dieser Raubbau an der Natur würde irgendwann katastrophale Folgen haben: Das Klima wird beeinflusst, Stürme werden entstehen, das ewige Eis an den Polen könnte schmelzen. Klingt wie Science-Fiction, ich weiß. Aber ich glaube es.
In Brasilien ist eine Umweltschutzgruppe namens »Greenpeace« aktiv, um die Rodung der Wälder zu stoppen. Ich sitze momentan noch in Rio, werde aber nächste Woche in deren Camp in den Regenwald
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