Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
wissen, dass ich damit aufgehört habe?«, grinste Dille. Petra lachte nicht. Sven und ich warfen uns einen bedeutungsschwangeren Blick zu und suchten schnell das Weite.
* * *
Es war passiert! Im Kino! Seit das Roxy geschlossen hatte, weil sein altersschwacher Besitzer in den längst überfälligen Ruhestand gegangen war, ging Sven jetzt manchmal mit Susann und Piet ins Magazin , ein kleines Kino in der Nähe des Stadtparks. Und bei einem dieser Ausflüge in die Welt des Films hatte Sven die endgültige Erkenntnis gewonnen, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
Er hatte natürlich schon längst bemerkt, dass er viele Dinge anders fühlte als seine Freunde. Er hatte sich nur kurz, und dann auch nur aus streng analytischen Gründen, für Dilles Mädchengeschichten interessiert. Und der Anblick weiblicher Brüste, der seine Kumpel offenbar völlig kirre machte und in sabbernde Idioten verwandelte, erschien Sven nach wie vor banal. Gut, die sahen schon okay aus, aber letztendlich: Was sollte das ganze Theater um die Titten?
Eine Zeit lang dachte Sven, er sei ein Spätzünder, das Interesse an Mädchen würde schon noch kommen. Jeder anderen denkbaren Erklärung verbot er den Zutritt zu seinem Gehirn. Doch an diesem Tag im Kino konnte er sich selbst nicht mehr belügen. Sie sahen sich den nagelneuen Kinohit Krieg der Sterne an. Und während alle Leute im Kino voll auf die Action abfuhren, die Raumschiffe bestaunten und bei den Laserschwert-Duellen gespannt die Luft anhielten, hatte Sven nur Augen für Luke Skywalker! Wow, war der Kerl …
… ja, was nun eigentlich?
Süß?
Ja. Süß.
Und ehe sich Sven versah, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, hatte er eine Erektion.
Oh, Gott!
1978
F alls es irgendjemanden interessiert: Ja, es tut weh, sich eine Sicherheitsnadel durch die Wange zu stechen! Ich weiß das mit Bestimmtheit, denn ich habe es getan. Drei Jahre lang hatte ich demonstriert, Petitionen unterschrieben, mich von der Polizei hetzen, prügeln und mit Wasser bespritzen lassen. Ich hatte die eine oder andere Scheibe eingeschmissen, einen Bauzaun in Brockdorf, einen anderen an der Startbahn West mit eingerissen und so manche Wand mit der Aufforderung besprüht, man möge den Widerstandskämpfern in Nicaragua endlich ein paar Waffen schicken.
Und hat es was gebracht?
Nix! Nada! Njente!
Die Welt war eklig wie eh und je. Trotz dreijähriger intensivster Bemühungen meinerseits waren wir vom Weltfrieden, vom globalen Sozialismus, ja sogar von der Zerschlagung der Atomindustrie genauso weit entfernt wie vorher. Also zog ich die Konsequenz: Ich rasierte mir einen Irokesenschnitt, den ich dann schwarz und gelb einfärbte, ich erstand auf dem Flohmarkt eine zerschlissene Lederjacke, auf die ich ein A mit einem Kreis darum pinselte, ich kaufte mir Platten der Sex Pistols , von Clash , den UK Subs und den Ramones . Und, wie gesagt: Ich zog mir eine Sicherheitsnadel durch die Wange.
Es war ein logischer Schritt: Entweder kapitulierte ich, gab die Rettung der Welt auf und wurde einer dieser furzöden Spießer, über die ich in den letzten Jahren so oft und hingebungsvoll hergezogen war – oder ich erhob mich auf die nächste Stufe der Verweigerung und Coolness: Ich war jetzt ein Punk, lebte nach der simplen Devise Scheiß drauf! und war fest überzeugt, mit dreißig eine Leiche zu sein. Die zwölf Jahre bis dahin wollte ich ohne Rücksicht auf Konventionen und Vernunft genießen.
Ich war ein Bürgerschreck!
Ich war die Fleisch gewordene Anarchie!
Und deshalb fand ich es ziemlich schockierend, dass Susann einen Lachkrampf bekam, als sie mich das erste Mal in meinem neuen Outfit sah!
Rückblickend weiß ich natürlich, dass ich als Möchtegern-Untergrundmacho ein ziemlich albernes Bild abgegeben haben muss, aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass nicht nur ich wie ein Depp herumrannte. Wegen Susann hätte die Fashion Police sogar eine Sonderkommission gründen können.
Susann war ein Hippie. Sie rannte mit bunten Wallekleidern herum, blieb bis zum Spätherbst barfuß, trug statt Schuhen nur ein kleines silbernes Fußkettchen mit einem ominösen Symbol aus der indischen Mythologie, dessen Bedeutung sie selbst nicht plausibel erklären konnte. Sie behängte sich mit achtstöckigen Ohrringen, in die kunstvoll bunte Federn und glitzernde Strassperlen eingearbeitet waren und die bei jedem Schritt klingelten, als wäre Susann ein Tambourmajor und führe einen unsichtbaren Spielmannszug an. Und um ihr langes
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