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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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so üblen Schnitt hatte, saß ich bevorzugt in meinem Zimmer oder an irgendwelchen schmuddeligen Tresen herum und frönte dem großen Garnichts.
    Es war acht Uhr morgens. In unserer Wohnung lagen überall schlafende, knurrende und murmelnde Leute herum, denn wir hatten eine Party gehabt. Eine dieser exzessiven Sausen, wegen deren unsere Nachbarn ernsthaft an einen Umzug in ein ruhigeres Stadtviertel nachdachten. Eine dieser Drogen- und Alk-Spektakel, zu denen ich meine Kirschkernspucker-Freunde niemals eingeladen hätte.
    Ich war nicht müde. Ich saß da, las wieder und wieder den Brief. Unten vor dem Haus hatte der Fischmarkt begonnen. Abertausende von Menschen drängelten sich an unserem Haus vorbei, um Obst, Pflanzen oder Kitsch jeder Art zu erstehen.
    Und dann kam Narc herein. Narcs Augen sahen aus wie zwei Rubine – knallrot. Ich habe bis heute keine Ahnung, was genau Narc sich im Laufe der Nacht alles eingeworfen hatte, aber ich bin mir sicher, dass es weitaus drastischere Substanzen als Alkohol oder Cannabis waren. Er experimentierte damals ziemlich viel mit LSD herum. Narc summte eine Melodie, nichts, was man erkennen konnte, bloß eine stupide Abfolge von Tönen. Er öffnete das Fenster, was mir sehr recht war, denn als ob der Zigaretten- und Bierdunst in meinem Zimmer noch nicht schlimm genug gewesen wäre, hatte der mir unbekannte Typ, der sich auf dem Flokati vor meiner Matratze zusammengerollt hatte, im Schlaf zu furzen begonnen.
    »Hi, Narc!«, sagte ich. »Gute Idee.«
    »Gute Idee?«, brummte Narc fragend, drehte sich zu mir um, sah mich an, ohne mich wirklich zu sehen.
    »He, alles okay, Alter?«, fragte ich pflichtbewusst, aber nicht ernsthaft besorgt. Dafür hatte ich ihn einfach schon zu oft so weggetreten gesehen.
    »Gute Idee?«, fragte Narc noch einmal.
    »Ja, klar«, sagte ich und deutete auf das offene Fenster. »Gute Idee.«
    »Gute Idee …«, wiederholte Narc, kletterte auf das Fensterbrett – und sprang mit einem Satz hinaus!
    Scheiße!
    Ich sprang hektisch auf, stolperte dabei über den furzenden Schläfer zu meinen Füßen, hastete mit schmerzendem Fuß zum Fenster und lehnte mich so weit wie möglich hinaus.
    Narc war mit dem Kopf in einer Kiste Orangen gelandet, seine Füße waren auf die Schulter einer Marktfrau gekracht, die wir danach für Wochen mit einer Halskrause herumrennen sahen. Zwei Touristen aus dem Schwäbischen wurden durch die herumfliegenden Teile des einstürzenden Verkaufsstandes leicht verletzt. »Doch keine gute Idee …«, murmelte Narc noch, als er zwischen zerquetschten Südfrüchten und zersplittertem Holz lag, kurz bevor er die Besinnung verlor.
    Narc hatte Glück im Unglück: Der Marktstand hatte seinen Fall aufgehalten und die Aufprallgeschwindigkeit deutlich vermindert. Er brach sich das linke Schlüsselbein, hatte einen Trümmerbruch im Oberschenkel, diverse Prellungen und Abschürfungen sowie eine schwere Gehirnerschütterung. Nichts, was nicht ausheilte.

    Der Satz, den ich zuletzt in Bernhards Brief gelesen hatte, bevor Narc sich zu seiner Flugübung entschloss, war dieser: Ich bin so froh, dass ich den Absprung geschafft habe!
    Bernhard war abertausende von Kilometern entfernt, ich hatte ihn seit über drei Jahren nicht mehr gesehen. Aber in diesem Moment kam es mir so vor, als wäre er der engste Freund, den ich je hatte. Ein Freund, der mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.
    Zwei Wochen später fand ich eine eigene kleine Eineinhalbzimmerwohnung in Altona.
    * * *
    Als Amelie die Tür zu Svens Zimmer öffnete und sah, dass ihr Sohn onanierte, wollte sie eigentlich sofort und heimlich den Rückzug antreten. Das war eine der Situationen, die sie nun wirklich nicht haben musste! Doch Sven hatte bemerkt, wie seine Mutter die Klinke herunterdrückte, und sich blitzschnell ein Kissen über den Schoss geworfen. Amelie, die eigentlich nur die Wäsche in Svens Schrank packen wollte, dachte, es wäre das Klügste, so zu tun, als hätte sie nichts bemerkt. Vermutlich würde Sven wissen, dass, dem nicht so war – aber sie hatte ums Verrecken keine Idee, was sie hätte sagen sollen. Das war einer der Momente, in denen sie sich wünschte, Franz wäre noch da.
    Amelie ging mit einem gequälten, bemüht gleichgültigen Lächeln zum Schrank und wollte sich gerade daranmachen, Svens Pullis zu stapeln, als ihr Blick auf das Druckerzeugnis fiel, das ihrem Sohn offenbar als Inspiration gedient hatte. Natürlich erwartete sie einen Playboy , vielleicht auch einen

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