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Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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richtigen Porno, doch sie erwartete nicht, was sie jetzt sah: Es war der Katalog des Otto-Versands , aufgeschlagen in der Rubrik …
     … Herren-Unterwäsche!
    Sven hatte auf die Bilder männlicher Fotomodelle in Unterhosen onaniert?
    Bevor Amelie überlegen konnte, tat sie, was sie für den Rest ihres Lebens bereuen sollte: Sie schrie!
    Sie schrie so laut, dass Sven, der verstohlen aufgestanden war, um seine Unterhose wieder hochzuziehen, entsetzt zusammenfuhr. Amelie schrie keine Worte, sondern nur ein grelles Kreischen, ein schrilles Geheul, als wäre sie ein tollwütiges Tier. Und dann nahm Amelie, deren Gesicht mittlerweile eine verzerrte Grimasse war, den Katalog in beide Hände und schlug ihn ihrem Sohn mit aller Macht gegen die Brust. Sven kippte nach hinten, krachte mit dem Kopf gegen die Wand und hielt sich dann schützend die Hände vors Gesicht. Amelie schrie weiter, schlug ihren Sohn noch drei weitere Male – einmal erwischte sie seinen Bauch, einmal die Schulter, einmal streifte sie sein angewinkeltes Knie. Dann verstummte sie plötzlich, ließ keuchend den Katalog fallen und ging, ohne ein weiteres Geräusch zu machen, aus dem Zimmer.
    Sven blieb noch minutenlang apathisch so kauern. Die Hände vor dem Gesicht, die Beine angewinkelt wie ein Embryo. Und erst dann, nach fünf Minuten, begann er leise zu wimmern. Fast eine Stunde lang lag er auf seinem Bett, leise schluchzend. Dann stand er schließlich auf und ging zaghaft in Richtung Küche. Er hatte begonnen sich um seine Mutter Sorgen zu machen. Sie hatte ihn noch nie geschlagen. Und so groß sein Schmerz momentan auch sein mochte, so sehr hoffte er auch, dass seine Mama wieder in Ordnung war. Irgendetwas war mit ihr. Und er wusste, dass der dumme Spruch, dass es Eltern manchmal mehr wehtut, ihre Kinder zu schlagen, als es den Kindern wehtut, geschlagen zu werden, heute womöglich wahr geworden war.
    Amelie saß am Küchentisch, den Kopf in den Händen vergraben. Sven näherte sich ihr zaghaft und legte seine Hand auf ihre Schulter. Er spürte, wie sie sich anspannte. Doch ihr Kopf blieb vergraben, ihr Gesicht unsichtbar. Und dann hörte er, durch die Mauer ihrer Hände, wie sie sagte: »Weißt du, warum dein Vater uns verlassen hat?«
    Sven atmete schwer aus.
    »Er ist homosexuell«, sagte Amelie. » Schwul ist er!« Und immer noch hielt sie beide Hände fest vors Gesicht gepresst. Sven begann zu zittern.
    »Das ist es, was Schwule tun!«, zischte Amelie. »Sie zerstören das Leben der Leute, die sie lieben!«

1980
    B ernhards dritter Brief erreichte uns im April 1980. Und wieder hatte unser Freund einen langen Weg zurückgelegt: Poststempel Bangkok!
    Auch diesmal hatte Bernhard den Brief an meine alte Adresse bei meinen Eltern geschickt, doch ich ließ ihn ungeöffnet. Schließlich war er nicht nur für mich, sondern für die ganze Bande bestimmt. Ich wollte ihn allen Kirschkernspuckern gleichzeitig vorlesen. Ich war mir sicher, dass den anderen Bernhards Briefe ebenso viel bedeuteten wie mir.
    Wir saßen alle im Wohnzimmer von Dille und Petra. Ihr mittlerweile vierjähriger Sohn Jan (den es nicht mehr zu irritieren schien, dass seine Eltern ihn hin und wieder »Fabian« und »Rocky« nannten) hatte das Temperament seiner Mutter geerbt und gewann deshalb eine tiefe Befriedigung daraus, uns alle im stets unerwartetsten Moment aus dem Hinterhalt anzuspringen oder mit enormem Schmackes Bauklötze an den Kopf zu schmeißen. Susann fand das scheinbar ganz drollig, ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich der Zwerg nervte, und Sven schien vor dem Kleinen regelrecht Angst zu haben. Er vermied jeden Blickkontakt mit ihm. Überhaupt war Sven in letzter Zeit zu einer wandelnden Schiss-Maschine mutiert. Schon früher war er ja nicht unbedingt für seinen todesverachtenden Wagemut bekannt, aber mittlerweile hatte seine verhuschte Zögerlichkeit fast eine erschreckende Dimension angenommen.
    Ich räusperte mich und wedelte den Briefumschlag in der Luft: »Meine Damen und Herren: Neues von Bernhard, dem Globetrotter!« Ich wies mit theatralischer Geste auf die Briefmarke und tönte: »Bangkok. Thailand!«
    »Eiland!«, repetierte der kleine Jan nicht ganz richtig.
    »Pst!«, machte Petra.
    »Prrrrrrl!«, machte Jan, indem er seiner Mutter die Zunge herausstreckte.
    Ich öffnete den Umschlag möglichst vorsichtig, weil ich Bernhards Briefe ganz entgegen meines sonst eher schlampigen Naturells mit intakter Marke und Poststempel

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