Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Stimmen, die anderen Nationen zusammen aber nur noch eine Stimme hatten. Aus Protest verließen fast alle auswärtigen Studenten und Magister die Metropole an der Moldau.
Die Universität verlor ihre europäische Ausstrahlung und entwickelte sich zum Zentrum der hussitischen Bewegung. Nachdem der tschechische Reformator 1415 auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden war, hob das Kirchenkonzil die Privilegien der Prager Hochschule auf. Für Fremde wurde es uninteressant, hier zu studieren. Die Karls-Universität versank für fast zwei Jahrhunderte im Dämmerschlaf einer böhmischen Provinzhochschule. Die hussitische Hochschule kam im 16. Jahrhundert unter den Einfluss der katholischen Habsburger. Auf Einladung Kaiser Ferdinands I. begannen die Jesuiten, in Prag eine Akademie am Klementinum aufzubauen, die mit ihren Erfolgen in Lehre und Wissenschaft die Karls-Universität bald überflügeln sollte. 1654 vereinigte Kaiser Ferdinand III. beide Hochschulen unter dem Namen Universitas Carolo Ferdinandea.
Ein folgenreicher Traditionsbruch geschah 1764. Der Professor für schöne Wissenschaften und Moral, Karl Heinrich Seibt, begann als erster Hochschullehrer, Vorlesungen auf Deutsch zu halten. »Seibtisch reden« traf den Zeitgeist. 20 Jahre später beendete eine Studienreform Kaiser Josephs II. die Vorherrschaft des Lateinischen. Deutsch wurde die bestimmende Unterrichtssprache an der Karl-Ferdinands-Universität.
Die Reformen fielen mit der beginnenden nationalen Wiedergeburt der Tschechen zusammen. Das Volk forderte Selbstbestimmung und Gleichstellung beider Sprachen. An
der Hochschule gerieten die deutschsprachigen Studenten in die Minderheit, im deutschen Lehrkörper wuchs die Sorge, dass die Universität zum Tschechischen »umkippen« könnte. Rektor Ernst Mach warnte vor »einer bedauerlichen Borniertheit und einem furchtbaren Rückschritt durch die Nationalitätsidee«. Gleichwohl teilte 1882 Kaiser Franz Joseph I. die Hochschule. In Prag konkurrierten jetzt zwei akademische Lehranstalten, eine deutsche und eine böhmische. An der böhmischen Karl-Ferdinands-Universität wurde »Böhmisch ausschließliche Unterrichtssprache«, an der deutschen die deutsche Sprache. Im Streit um das historische Erbe hatten die Tschechen jedoch das Nachsehen. Das Teilungsgesetz erklärte die deutsche Hochschule zur legitimen Nachfolgerin der Universitas Carolina. Sie durfte die Hochschulinsignien und das Archiv verwahren.
Mit dem Zerfall Österreich-Ungarns und der Gründung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich die Lage. Die Teilung wurde 1920 korrigiert: Nur die tschechische Einrichtung durfte sich von nun an mit dem Namen des Gründers Karl schmücken. Das historische Karolinum fiel an die tschechische Universität, der deutschen Hochschule wurde lediglich eine Mitbenutzung eingeräumt. Die Insignien sollten der tschechischen Universität ausgehändigt werden, doch die deutsche Universitätsleitung widersetzte sich vehement. Beim sogenannten Insignienstreit 1934 drohte der Konflikt zu eskalieren. Um Blutvergießen zu vermeiden, rückte der Rektor die akademischen Symbole schließlich heraus.
Nach der Okkupation der »Rest-Tschechei« durch die deutsche Wehrmacht im März 1939 wanderten die Insignien auf Befehl des Reichsprotektors wieder zurück an die deutsche Universität. Am 28. Oktober 1939, dem Gründungstag der Tschechoslowakei, gab es Demonstrationen, in
deren Folge ein Student starb. Die Trauerfeier löste neue Unruhen aus. Neun »Rädelsführer« wurden standrechtlich erschossen, 1200 Studenten kamen ins Konzentrationslager. Die deutschen Besatzer nutzten die Vorfälle als Vorwand, die tschechische Hochschule zu schließen. Fortan firmierte die deutsche Einrichtung als einzig legitime Nachfolgerin der Gründung von 1348. Als »Frontuniversität« avancierte sie zum Forschungszentrum für Südosteuropa- und Rassestudien.
Anfang Mai 1945 endete die Nazi-Herrschaft in Prag und auch die Geschichte der deutschen Universität an der Moldau. Ausdrücklich »auf ewig« löste Präsident Edvard Beneš die »der tschechischen Nation feindliche Institution« rückwirkend zum 17. November 1939 auf. Abschlüsse und Titel aus der Okkupationszeit wurden annulliert, das Eigentum der tschechischen Universität übergeben. Die Insignien und Gründungsurkunden befanden sich nicht darunter. Sie gelten seit Kriegsende als verschollen. Kriminalpolizeiliche Nachforschungen ergaben, dass der Waggon aus Prag im
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