Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
abzubrennen. Der Handel florierte. Hansekaufleute verschifften tonnenweise Pelze und brachten aus dem Westen Tuche, Salz, Silber, Buntmetalle und Heringe zurück. Immer mehr Unternehmer strömten nach Russland, so dass der Fürst von Nowgorod sie 1199 mit umfangreichen Schutzprivilegien ausstattete: Die Händler sollten »ungeschädigt« nach Nowgorod gelangen und auch in Kriegszeiten »unbehelligt nach Hause ziehen« können. Zur Absicherung entwarf der Fürst einen detaillierten Strafenkatalog: Für jeden erschlagenen deutschen Boten waren 20, für jeden Kaufmann 10 Mark Silber fällig. Schon Hiebe mit einer Waffe sollten den Täter Bußgeld kosten. Zudem durften die Deutschen ihr eigenes Kontor errichten, das sie »Peterhof« nannten. Hinter den hohen Palisaden des Hofs wuchs eine Kleinstadt mit Brauhaus, Backstube, Hospital und Kirche heran, schließlich mussten die Kaufleute hier Monate verbringen. Nachts sicherten Doggen das Gelände vor Eindringlingen. Und
selbst das Gotteshaus diente nicht nur dem Seelenheil: Es war in Wahrheit auch ein Versteck für die Geldkasse und ein Warenlager, streng bewacht, rund um die Uhr. Manchmal türmten sich die Güter bis auf den Altar.
Weit weniger harmlos verzahnten Kaufleute Gottesfurcht und Unternehmensgeist zur selben Zeit auch in Livland. Dort, auf Gebieten des heutigen Lettlands und Estlands, hatten die Deutschen bisher nicht richtig Fuß gefasst. Doch 1193 rief Papst Coelestin III. zum Kreuzzug gegen die heidnischen Balten auf. Das war für die Fernhändler die Chance auf klingende Kassen – und besonders Lübeck nutzte sie. 1198 versammelte sich dort aus dem ganzen Reich »eine große Menge von Prälaten und anderen Geistlichen, von Rittern und Kaufleuten«, wie Chronist Arnold von Lübeck berichtet. Die Männer hätten »Schiffe, Waffen und Lebensmittel« gekauft, dann brachen sie nach Livland auf. Die Finanzkraft und die Logistik der Händler ermöglichten den religiösen Eiferern den Krieg, von dem schon bald die ganze Hanse profitieren sollte.
Die Kreuzritter siegten, verloren aber auf dem Schlachtfeld Bischof Berthold von Livland. Erst sein Nachfolger Albert, der mit 500 frischen Kämpfern von Gotland nachrückte, konnte die Region dauerhaft unterwerfen. Der Aufwand lohnte sich: »Das Land dort ist nämlich fruchtbar zum Beackern, hat Überfluss an Wiesen, wird auch von Flüssen durchströmt und ist hinreichend mit Fischen und Holzungen versehen«, schwärmte ein Chronist über die Gegend an der Düna-Mündung. Genau hier, an einem natürlichen Hafen, gründete der aus der Nähe von Bremen stammende Albert 1201 Riga – skrupellos hatte er livländische Geiseln genommen und sie gezwungen, ihm einen günstigen Ort zu nennen. Schon bald entwickelte sich Riga zum zweiten pulsierenden Knotenpunkt des Osthandels. Mit Hilfe von
Kaufleuten aus Lübeck, Münster und Soest wuchs die Stadt binnen weniger Jahre mehrmals über ihre alten Grenzen hinaus. Über die Düna drangen Kaufleute sogar bis in die heute weißrussischen Städte Polazk und Smolensk vor.
Gesichert wurden die lukrativen Geschäfte von Beginn an über den deutschen Ritterorden der Schwertbrüder, in dem ehemalige Kreuzritter und Kaufleute Seite an Seite kämpften. So schossen bis zum 14. Jahrhundert in Livland 20 neue Städte aus dem Boden, darunter im Binnenland Dorpat, das heutige Tartu. 1224 eroberten die Schwertbrüder dort eine Burg und machten den Ort schnell zur florierenden Bischofsstadt. Bald das östlichste Hansemitglied, wurde Dorpat zum wichtigsten Zwischenstopp für die wachsende Zahl an Händlern, die auf dem Landweg nach Nowgorod zogen.
Auch am Erfolg Revals, des heutigen Tallinn, war der Ritterorden maßgeblich beteiligt: Im Jahr 1230 rief er 200 deutsche Kaufleute aus Gotland in die bisher verschlafene Ostseesiedlung und legte damit den Grundstein für einen rasanten Aufschwung. Hier wurden Pelze, Getreide und Flachs exportiert, Tuche und Salz importiert. Reval konnte langfristig sogar mit Riga um die Rolle als zentraler Umschlagsort im Nowgorod-Handel konkurrieren.
Noch enger verquickten sich Missionierung und Wirtschaftsinteressen nur in Preußen. Dort regierte seit dem Jahr 1230 der Deutsche Orden wie ein straff organisierter Staat, mit seinem Hochmeister als königsgleichem Herrscher. Der versuchte, seine junge Regentschaft mit einer klugen Städtepolitik abzusichern. An Weichsel und Ostsee gründete, erweiterte und befestigte der Orden daher schon bald Städte wie Thorn, Kulm,
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