Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Rangierbahnhof von Pilsen bei einem Luftangriff der Royal Air Force in der Nacht vom 16. zum 17. April 1945 zerstört wurde. Ungeklärt blieb, ob die Preziosen zum Zeitpunkt des Bombardements in dem Eisenbahnwagen waren.
Wirtschaftswunder an der Ostsee
Mit kaufmännischem Geschick, aber auch mit brachialer Gewalt sicherte sich die deutsche Hanse eine Einflusszone im Osten Europas. Sie wirkte mit an der Gründung von Städten wie Riga, Reval und Dorpat.
Von Christoph Gunkel
Iwan III. hatte seinen Handstreich perfekt vorbereitet. Der Moskauer Großfürst, der sich als erster Russe den Titel Zar anmaßte, traf seinen mächtigen Gegner völlig unvorbereitet: Mit einem simplen Befehl stürzte er die Hanse, diese seit Jahrhunderten dominante Handelsmacht im Ostseeraum, in eine schwere Krise. Am 6. November 1494 ließ der Großfürst deutsche Fernhändler, Gesellen und Priester im Hansekontor Nowgorod gefangen nehmen und verschleppen. Kurz danach verhaftete er sogar zwei Diplomaten der Hanse. Damit nicht genug: Iwan plünderte das Lager des Kontors, beschlagnahmte alle Waren. Weil die Deutschen in Nowgorod überwintern mussten, war das Magazin prall gefüllt gewesen.
Vielleicht träumte der ehrgeizige Herrscher schon damals von einem großen russischen Reich bis an die Ostsee und dachte an seine eigenen Kaufleute. Vielleicht wollte er dem Heiligen Römischen Reich auch nur symbolisch seinen Machtanspruch demonstrieren und sich für vergangene diplomatische Kränkungen rächen.
Die Nachricht von der Schließung ihres östlichen Kontors traf die Hanse jedenfalls bis ins Mark. Iwans Attacke richtete sich nicht nur gegen die älteste und wichtigste Außenstelle der
Hanse im Osten. Sie stellte gleichzeitig ein wirtschaftliches Erfolgsmodell in Frage, das seit drei Jahrhunderten prächtig funktioniert hatte: den blühenden Handel auf der Achse Nowgorod-Lübeck-Brügge. Mit einer Mischung aus Diplomatie und Drohungen hatte sich die Hanse hier schon seit dem 12. Jahrhundert entscheidende Vorteile gegenüber der Konkurrenz erkämpft. Lange besaß niemand an der Ostsee so umfangreiche und vorteilhafte Privilegien wie die deutschen Kaufleute, die auch den lukrativen Handel von Pelzen und Wachs in den Westen nahezu monopolisieren konnten – und ihre Vorrechte mit allen Mitteln verteidigten.
Dieser erstaunliche Aufstieg der Kaufmannschaft und ihr Drang bis ins ferne Nowgorod, im Spätmittelalter eine autonome Stadtrepublik, hatten bereits 1143 begonnen. Damals wurde Lübeck als erste deutsche Ostseestadt gegründet. Mehrmals zerstört, zog die Stadt dennoch Fernhändler aus dem ganzen Reich an – und fand im Sachsenherzog Heinrich dem Löwen einen umtriebigen Förderer. Überall warb er für den neuen Handelsort. Schnell erkannte Heinrich, dass der Weg von Lübeck in den Osten nur über die Insel-Drehscheibe Gotland mit ihrer Metropole Visby führen konnte. Dort siedelten auch deutsche Händler. 1161 söhnte Heinrich daher vertraglich die verfeindeten deutschen und Gotländer Kaufleute aus, um »Hassausbrüche, Feindschaften und Morde« zwischen ihnen zu beenden. Der Herzog garantierte den Gotländern Rechtssicherheit und Zollfreiheit in seinem Machtbereich, vorausgesetzt, »die Gotländer gewähren unseren Leuten in dankbarer Wechselseitigkeit dasselbe«. Ein geschickter Schachzug mit langfristig ungleichen Vorteilen: Visby wurde für die Deutschen zum Sprungbrett auf den russischen Markt, von dem die Neulinge die Gotländer später rücksichtslos verdrängen sollten. Um ihre Interessen besser durchsetzen zu können, schlossen sich die
Kaufleute durch einen Schwur zur »Gemeinschaft der deutschen Gotlandfahrer« zusammen. Sie gaben sich eine eigene Verfassung, wählten einen »Oldermann« an ihre Spitze und gingen nur im Verbund auf Reisen. Ohne es zu ahnen, hatten sie damit die Blaupause für das spätere Erfolgsrezept der Hanse geliefert: Aus dem losen Zusammenschluss gleichgesinnter Unternehmer entwickelte sich langfristig die Idee einer engen Zusammenarbeit potenter Städte.
Die Deutschen folgten nun den erfahreneren Skandinaviern Richtung Osten und gelangten über die Flüsse Newa und Wolchow bis nach Nowgorod. Dort lag der wichtigste Umschlagsort für Pelze, Felle und Wachs – Luxusgüter, nach denen die ständebewusste Feudalgesellschaft nur so gierte: Wer etwas auf sich hielt, schmückte sich mit kostbaren Zobeln aus Russland und erleuchtete sein Anwesen mit duftenden Wachskerzen, statt übelriechendes Fett
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