Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
ihr ein Café nebst Gästehaus zu machen. Den kunstsinnigen jungen Mann, der den Wasserturm im einstigen Georgenswalde als Galerie retten will. Oder jene Bürger in Selenogradsk, dem berühmten früheren Seebad Cranz, die eine Kopie der Kutsche von Königin Luise aufstellen möchten – in der dortigen Posthalterei hatte die Gemahlin des preußischen Herrschers 1807 auf der Flucht vor Napoleon genächtigt.
Und es gibt Männer wie Wladimir Ryschkow. Er ist im Kaliningrader Café »Bon Bon« am Siegesplatz, der früher Hansaplatz hieß, anzutreffen – weil von dort der Blick ungehindert hinüber zur neuen orthodoxen Kathedrale geht. Auf die Russisch-Orthodoxen ist der Mann mit der Glatze nicht gut zu sprechen. Die Geschichte, die er erzählt, zeigt, wie schwierig es manchmal ist, ostpreußisches Erbe zu bewahren. Ryschkow, 52, von Beruf Lehrer und Germanist und Vizechef der Gesellschaft für Fremdenführer, hat etwas aufgedeckt, was er eine »Schande für Kaliningrad« nennt. Es war im März 2010, als er mit anderen Fremdenführern eine neue Tour durchs Kaliningrader
Gebiet zusammenstellen wollte; »Der Weg zur Kirche« sollte sie heißen.
Ostpreußen hat seinen Nachfolgern über 220 Kirchen hinterlassen, evangelische wie katholische, von denen die meisten nach dem Kriege verfallen, bestenfalls zu Lagern oder Werkstätten umgebaut worden sind. Nur in wenigen Fällen werden sie noch sinnvoll genutzt: In der früheren Königsberger katholischen Kirche Zur Heiligen Familie ist die Kaliningrader Philharmonie zu Hause, die wiederaufgebaute, ehemals evangelische Luisenkirche beherbergt ein Puppentheater, und in der Christuskirche neben der einstigen Waggonfabrik Steinfurt rockt Kaliningrads Jugend – die Discothek »Wagonka« ist die beste in der Stadt. Auch viele der verfallenen Kirchen werden seit der Öffnung des Gebiets 1990 wiederentdeckt.
Die Katharinenkirche in Maryno ist so eine: erbaut vor 1350 von deutschen Rittern und besonders wertvoll durch den 600 Jahre alten Fries mit dem Heilsspiegel, der zweifach um das Kirchenschiff läuft. Maryno hieß früher Arnau und lag neun Kilometer östlich der Provinzhauptstadt, viermal täglich hielt die Kleinbahn aus Königsberg hier. Zu Sowjetzeiten wurde das Gotteshaus als Getreidespeicher genutzt, dann verfiel es. Ein deutsches Kuratorium begann 1992 mit dem Wiederaufbau, reparierte den Turm, errichtete einen neuen Dachstuhl und schloss mit dem Gebiet einen Vertrag bis zum Jahr 2018: Ein kulturgeschichtliches Museum nahm in den Gemäuern seine Arbeit auf. Bis Herbst 2010 hatte das Kuratorium 320 000 Euro in sein Projekt gesteckt.
Als Ryschkow und seine Kollegen im Frühjahr auch in der Arnauer Kirche vorbeisahen, waren sie entsetzt: Die Holzbalken, die die von den Sowjets eingezogene zweite Etage des einstigen Speichers trugen, waren abgesägt, die Fresken beschädigt worden – und das Museum nirgendwo
mehr zu sehen. Die Orthodoxe Kirche, in Russland gleichsam Staatskirche, hatte das Arnauer Gotteshaus im Handstreich genommen und war dabei, in der lutherischen Kirche einen orthodoxen Altar einzubauen. »Wir trauten unseren Augen nicht«, sagt Ryschkow. Er alarmierte das deutsche Kuratorium, dann die Medien, den Gouverneur und erhielt im Mai eine Antwort aus der Provinzregierung: Ja, die Kirche in Maryno sei den Orthodoxen übergeben worden.
Brücke in Tilsit, jetzt Sowjetsk, über die Memel nach Litauen (heutige Ansicht)
»Sie müssen sich das einmal vorstellen«, sagt Ryschkow und schaut böse zur goldfunkelnden Kathedrale am Siegesplatz hinüber, »der Staat hatte sich im Stillen mit der orthodoxen Kirche geeinigt, ihr dieses historische Kleinod zu übergeben. Er hatte ohne Skrupel bestehende Verträge gebrochen, gar nicht zu reden vom historischen Flurschaden. « Ein Einzelfall? Der Aufregung nicht wert? Nein, sagt Wladimir Ryschkow, hier gehe es um mehr, es sei »eine Katastrophe
für das kulturelle Erbe der Region«. Die habe im Mittelalter und während der Aufklärung eine wichtige Rolle gespielt und seit je Ost- mit Westeuropa verbunden.
Ryschkow setzte Himmel und Hölle in Bewegung, die Gebietsführung musste Farbe bekennen, das Thema kam im Provinzparlament auf die Tagesordnung. Dort stellte sich heraus, dass es nicht nur um Arnau, sondern nahezu zwei Dutzend weitere deutsche Kirchen ging und sogar um einstige Schlösser und Burgen des Deutschen Ordens, die allesamt den Orthodoxen übereignet werden sollten. Der Gouverneur legte einen Gesetzentwurf vor, der
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