Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
ostpreußischen
Kulturgeschichte; Schulklassen und Touristen kommen. Selbst bis nach Dresden sprach sich herum, was hier passiert: Sozialpädagogen vom Internationalen Bund, einem der großen Vereine für Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit in Deutschland, tauschen mit den Insterburgern Jugendgruppen aus. Der Schutt wurde aus den Schlosskellern geholt, und es wurde mit der Sicherung der verfallenen Zitadelle begonnen. Dafür gab es sogar Geld vom Moskauer Kulturministerium – »ein unglaublicher Erfolg für eine Stadt wie Tschernjachowsk«, sagt Alexej. Sie selbst arbeiten alle kostenlos, betreiben nebenbei kommerzielle Projekte in der Stadt. Eine Bürgerinitiative? Es gibt nichts Ungewöhnlicheres im obrigkeitsbewussten Russland. »90 Prozent aller Leute arbeiten fürs Geld«, sagt Alexej, »wir aber leben für unseren Traum, auch wenn wir inzwischen wissen, dass wir in diesem Schloss nur mit kleinen Schritten vorankommen werden. Wir haben sowieso alle die unterschiedlichsten Vorstellungen, wie es hier einmal aussehen soll.«
Inzwischen haben die Leute von der Stiftung ihr Wirkungsfeld sogar in die Stadt verlegt, und daran ist Dmitrij Suchin schuld, der Oberverrückte. Ein Architekt, der in Leningrad geboren ist, heute aber in Rotterdam und Berlin lebt, der Fliege und Nickelbrille trägt und ein liebenswert altertümliches Deutsch spricht. Suchin hat herausgefunden: In Tschernjachowsk gibt es noch eine komplette Straßenzeile mit Häusern des deutschen Ausnahmearchitekten Hans Scharoun. Die Siedlung, errichtet um 1920, ist ein Frühwerk des Meisters der organischen Architektur, der die Harmonie von Landschaft und Gebäude und eine soziale Zweckmäßigkeit der Bauten anstrebte. Sie hieß einmal »Bunte Reihe«.
Die zweigeschossigen Walmdachhäuser hinter den wilhelminischen Kasernen stehen trotz Krieg und Sowjetzeit fast so da wie früher, mit barockisierenden Schmuckformen
unter den Treppenfenstern und dem farbigen Putz von einst, nur sind sie ziemlich verfallen. Sie gehörten instand gesetzt und geschützt, befand Suchin und begeisterte für diese Idee auch die Truppe im Schloss.
Lassen sich in Russland deutsche Häuser eines deutschen Architekten restaurieren? Als Denkmäler der klassischen Moderne – in einem Land, das keinerlei Erfahrung im Umgang mit Denkmalssubstanz besitzt? Die Insterburger Aktivisten haben binnen eines Jahres Unglaubliches zustande gebracht: Im Juni 2010 haben sie deutsche Fachleute zu einem Architektensymposium nach Tschernjachowsk geholt und bei der Stadt erreicht, dass die deutschen Häuser zum kulturellen Erbe erklärt wurden. Architekturstudenten aus Kasan dokumentierten im Sommer die historischen Originalteile der Bauten, eine »Genossenschaft der Hausbesitzer« wurde gegründet, die sich mit fünf Prozent an den Kosten der originalgetreuen Instandsetzung beteiligen will. Die Denkmal-Akademie im deutschen Görlitz wird bei der Ausbildung von Restauratoren helfen, eine Firma im bayerischen Diedorf ermittelt die ursprünglichen scharounschen Töne.
»Es war klar, dass wir Kaliningrad verlieren, fast die gesamte Bausubstanz des früheren Königsbergs ist vernichtet, aber in kleineren Städten wie Tschernjachowsk lässt sich preußische Architektur noch rekonstruieren«, sagt Alexej Oglesnjow. Eine stehengebliebene Häuserzeile aus der Gründerzeit in der Komsomolzenstraße wollen sie retten, dazu das alte Lokomotiv-Depot mit seiner riesigen Kuppel, erbaut um 1870 vom Königlichen Eisenbahn-Baumeister Johann Wilhelm Schwedler – nur noch drei davon soll es in Europa geben.
Auch in Insterburgs früherer Wilhelmstraße, die inzwischen »Pionerskaja« heißt, erinnert noch manches Kleinod an die deutsche Geschichte. Vor Haus Nummer 9 zum Beispiel
steht ein leerer Denkmalssockel. Die Inschrift stammt vom 11. Juni 1911, der »Vorschuss-Verein zu Insterburg« hat sie angebracht, sie ist noch gut zu entziffern: »Tüchtige Bürger machen erst einen tüchtigen Staat – nicht umgekehrt« steht auf dem Stein.
Insterburg ist kein Einzelfall. Es gibt auch den Unternehmer Boris Bartfeld, der in einem seiner Hotels in Kaliningrad die »Bohnengesellschaft« veranstaltet, einen Salon, wie ihn Freunde des berühmten Königsbergers Immanuel Kant nach dessen Tod ins Leben gerufen hatten: Einmal im Monat treffen sich Professoren, Künstler, Schriftsteller und debattieren ein philosophisches oder politisches Thema. Es gibt das Ehepaar, das die Schlossmühle im früheren Gerdauen restauriert, um aus
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