Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
Vom Netzwerk:
die die deutsche Gesellschaft stark polarisierte und vieles unter Revanchismusverdacht stellte, manchmal als bequeme Ausrede, sich nicht schmerzhaften Fragen stellen zu müssen. Etwa: Sind meine Mutter, meine Großmutter auf der Flucht vergewaltigt worden?
    SPIEGEL: Sind die Polen geschichtsbewusster?
    KOSSERT: Ich denke, dass das Interesse der Polen an der Vergangenheit ungleich größer ist als das der Deutschen. 40 Jahre lang wurde ihnen durch den kommunistischen Staat eingetrichtert: Ihr wohnt in den »wiedergewonnenen Gebieten«, das war urpolnisches Land. Nach 1989 hatten sie ein Nachholbedürfnis, zu fragen: Was war hier eigentlich vor 1945? Sie hatten ja auch ihre eigenen Eltern und Großeltern gesehen, die auf gepackten Koffern saßen, die Angst hatten, die Deutschen kämen zurück, und die häufig ebenfalls um ihre verlorene Heimat trauerten.
    SPIEGEL: Und bei uns?
    KOSSERT: Die Deutschen stehen vor der Aufgabe, wie es Karl Schlögel formuliert hat, dieses Thema in die Mitte der
Gesellschaft zu rücken und zu fragen: Was ist mit unseren millionenfachen biografischen Bezügen zu diesem Thema und zu diesen Landschaften? Da stehen wir erst am Anfang.
    SPIEGEL: Gilt Ihr Satz noch: Noch ist Polen nicht verstanden?
    KOSSERT : Ja. Wir haben viel zu geringe Kenntnisse von der Geschichte unseres direkten Nachbarn. Die Geschichte Italiens oder Frankreichs gehört zu unserem klassischen Bildungskanon. Polen und sein kultureller Beitrag zur Geschichte unseres Kontinents sind jedoch kaum bekannt. Dabei ist die Historie Polens vielfach auch Teil unserer eigenen Geschichte.
    SPIEGEL: Und wem gehört Ostpreußen?
    KOSSERT : Es gehört natürlich den Menschen, die heute dort leben. Aber das kulturelle Erbe gehört durch die Familienbezüge genauso auch Millionen Menschen, die in Deutschland und anderswo leben.
    SPIEGEL: Herr Kossert, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

»Wir leben unseren Traum«
    In Ostpreußens nördlichem, nunmehr russischem Teil scheint die Geschichte versunken – Moskau unternimmt vieles, sie vergessen zu machen. Doch in vielen Orten bewahren engagierte Bürger die Spuren der Deutschen.

    Von Christian Neef

    Das Dorf Brandenburg liegt am Frischen Haff, es war berühmt durch seine Burg. Markgraf Otto III. von Brandenburg ließ sie 1266 anlegen, als er mit anderen Kreuzfahrern ins Prussenland kam – um von hoher Warte aus die Einfahrt der Schiffe nach Königsberg zu überwachen. Brandenburg heißt heute Uschakowo und liegt in Russland. Die Burg wurde im Krieg zerstört, russische Neusiedler nutzten die Reste als Steinbruch. Vom alten Prussendorf ist fast nichts mehr zu sehen, und doch meldet sich die ostpreußische Geschichte mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder zurück. Als sollten die Bewohner daran erinnert werden, dass der Landstrich zwischen Frischem Haff und Memel – dessen Städte einst Stallupönen oder Tapiau hießen, heute aber Nesterow oder Gwardejsk – einmal deutsch gewesen ist.
    Vor drei Monaten, im Oktober 2010, fand einer der Bürger von Uschakowo auf dem Dachboden seines Hauses in der früheren Berliner Straße Nummer 1 ein Lederfutteral mit den Insignien eines Münchner Biergartens. Er brachte es ins Kunsthistorische Museum nach Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg. In dem Behältnis fand sich die Hinterlassenschaft seines Vorbewohners: ein Mitgliedsausweis
der NSDAP mit Nachweisen über die Entrichtung der Mitgliedsbeiträge, der letzte vom Dezember 1944. Dazu Papiere der Lebens-Rettungs-Gemeinschaft, der Pensionskasse und der Deutschen Arbeitsfront. Die Dokumente waren auf den Namen Karl Schehl ausgestellt, geboren am 11. Juli 1892, Dienststellung: Oberlandjäger. Der Deutsche hatte sie vor seiner Flucht vor den Russen unter einer Lehmschicht versteckt – wohl in der Absicht, sie nach dem Endsieg wieder hervorzuholen. Schehl kam, wie die anderen zweieinhalb Millionen Ostpreußen, nie wieder in seine Heimat zurück. Aber was besagt der Fund von Uschakowo? Dass der letzte Königsberger Stadtarchivar, Fritz Gause, keineswegs recht hatte, als er, lange nach dem Krieg, schrieb: »Die siebenhundertjährige Geschichte Königsbergs ist mit den Königsbergern emigriert.«
    Auch in Tschernjachowsk stand ein Schloss, und auch das wurde im Krieg weitgehend zerstört, aber im Unterschied zu Uschakowo zieht jeden Morgen um neun Leben in die Ruine am Stadtrand ein. Denn ein Schlossflügel ist erhalten geblieben. Alexej Oglesnjow, 45, mit blauem Rollkragenpulli, Jeans und

Weitere Kostenlose Bücher