Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
das als rechtens erklärte – mit Verweis auf ein föderales Gesetz, das zur selben Zeit in Moskau diskutiert wurde: Es sah die Rückgabe allen Eigentums an religiöse Organisationen vor, die Stalin im Zuge der Kirchenverfolgungen enteignet hatte.
Im nördlichen Ostpreußen hatte es orthodoxen Kirchenbesitz nie gegeben. Auch dort nun mit Hilfe des Kreml ihren Besitz zu vergrößern, war ein schlauer Schachzug der Moskauer Kirchenführung, die seit langem schon ihre Macht auszubauen und Lutheraner wie Katholiken als Konkurrenten auszuschalten versucht. Am 7. Oktober 2010 lag das Gesetz zur Abstimmung in der Regional-Duma vor. »Ich ging hin«, erzählt Ryschkow, »ließ mich als Gastredner eintragen und bekam tatsächlich drei Minuten Redezeit. Im Eiltempo habe ich den Abgeordneten meine Argumente erklärt: dass die orthodoxe Kirche nie auch nur eine einzige evangelische oder katholische Kirche restauriert habe, die auf der Liste der Kulturdenkmäler stehe. Dass die Fresken in Arnau etwas Einmaliges in Europa seien. Dass kaum noch Touristen nach Kaliningrad kommen würden, wenn wir das preußische Kulturerbe einer einzigen Organisation übergeben.«
Ryschkow hatte sich, für umgerechnet 30 Euro, sogar eine Expertise vom Staatsarchiv besorgt. »Sie besagte, dass der
Deutsche Orden nie eine kirchliche Organisation gewesen, die Übergabe der Schlossruinen an die Orthodoxen also ein besonders skandalöser Vorgang sei.«
Sein Auftritt sorgte für einen Skandal, das Projekt scheiterte. Erst bei einer zweiten Abstimmung setzte sich der Gouverneur durch. Aber Ryschkow hat inzwischen eine gesellschaftliche Bewegung entfacht, die kaum noch zu ignorieren sein wird. Historiker, Künstler und Schriftsteller des Gebiets prangerten in einem offenen Brief die »aggressive Klerikalisierung« Russlands an. »Das ist neu«, sagt Ryschkow, »das hat es hier noch nie gegeben.« Und schaut nun sogar etwas besänftigt hinüber zur Kathedrale.
Anschelika Schpiljowa, eine hübsche junge Frau mit Ponyschnitt, kennt die Schwierigkeiten im Umgang mit der russischen Staatsmacht sehr wohl. Für die meisten Beamten beginnt die Geschichte dieser Region nach wie vor erst 1945. Frau Schpiljowa ist Museumsdirektorin in Sowjetsk, dem früheren Tilsit am Ufer der Memel – der Stadt, deren alter Name unauslöschbar verbunden ist mit Luise. Jener zierlichen Königin, die 1807 hier ihren vergeblichen Bittgang zu Napoleon unternahm, der auf einem Floß in der Mitte des Flusses dem besiegten Preußen die Friedensbedingungen diktierte.
In Sowjetsk den Spuren Luises zu folgen ist aussichtslos: Fast keines der Gebäude, in denen Napoleon, Zar Alexander und das preußische Königspaar Weltgeschichte schrieben, existiert noch, die meisten wurden erst nach Kriegsende zerstört. »Wir wollen«, sagt Anschelika Schpiljowa, »eine Touristentour vom Tilsiter Frieden bis zur Konvention von Tauroggen entwickeln, deren Abschluss sich 2012 zum 200. Mal jährt – und jene Stätten wieder aufbauen, die damals eine Rolle spielten.« Nicht gerade die Mühle von Tauroggen, in der General von Yorck 1812 eigenmächtig den Waffenstillstand
mit Russland schloss und damit die Befreiungskriege gegen Napoleon auslöste: Tauroggen heißt heute Taurage und liegt jetzt in Litauen. Aber das Luisen-Denkmal, das früher im Stadtpark stand, soll wiedererstehen, auch das kleine Haus, in dem Luise übernachtete und das vor wenigen Jahren noch stand. Leider ist für all diese Pläne kein Geld da, natürlich nicht. Schpiljowa hofft, es aus irgendeinem europäischen Fördertopf zu bekommen. Doch die Zeichen für Tilsit stehen wieder schlecht. Der Versuch, mit Schweizer Hilfe erneut den berühmten Tilsiter Käse zu produzieren, scheiterte. Die Bahnverbindung von Kaliningrad her wurde eingestellt, das Stadtgebiet zur Grenzzone erklärt – Ausländer dürfen es nur mit Genehmigung des Geheimdienstes FSB betreten, fast wie in alten Zeiten. Und nebenan bei Ragnit wird auch noch ein Atomkraftwerk gebaut. »Wir haben Angst, dass uns das die letzten Touristen vertreibt«, sagt Schpiljowa.
Wie lange Tilsit, die preußischste aller preußischen Städte, noch Sowjetsk heißen muss? Frau Schpiljowa weiß es nicht, aber sie erinnert an den vorigen Gouverneur, der die Bürger geradewegs ermuntert hatte, sich per Referendum den alten Namen zurückzuholen, weil der so unvergesslich die europäischen Wurzeln dieser Stadt widerspiegele. Sie glaubt wohl nicht daran, dass das im Russland des Wladimir Putin
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