Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Stadtzentrum, sind Russlanddeutsche tätig. Und als ein Moskauer SPIEGEL-Korrespondent sich im Herbst 1999 im beginnenden zweiten Tschetschenien-Krieg auf den Weg an die Front machte, brachte ihn ein Sicherheitsmann mit dem Pkw ins Krisengebiet und heil wieder zurück. »Mein Chef ist Russlanddeutscher«, sagte der FSB-Mann, »er will nicht, dass einem Deutschen hier etwas passiert.«
Es kann durchaus etwas Beruhigendes haben, wenn nicht ein Oblomow über die persönliche Unversehrtheit wacht, sondern ein Stolz.
Treibgut am Donaustrand
Hitlers Traum vom »Tausendjährigen Reich« brachte Hunderttausenden Deutschen in Südosteuropa Tod oder Vertreibung. Wer überlebte und blieb, büßte hinter dem Eisernen Vorhang. Eine Reise zu den letzten Deutschen zwischen Puszta und Schwarzmeerküste.
Von Walter Mayr
Der Weg ist derselbe wie vor 300 Jahren. Es geht stromabwärts, Kurs Südost. Vorbei an Passau und Wien, Bratislava, Budapest und Belgrad gleiten die Schiffe Richtung Schwarzes Meer. An Bord sind Donaukreuzfahrt-Touristen. Von Sonnendecks mit Whirlpool aus schauen sie aufs Ufer. Auf Landschaften, in denen seit zehn Generationen Deutsche siedeln.
Ofener Bergland. Schwäbische Türkei. Batschka. Banat. Dobrudscha.
Verschüttete Seelenlandschaften. Namen aus der Vorväter-Zeit. Zusammengepfercht in »Ulmer Schachteln«, hölzernen Einwegbooten, machten erste Siedler sich Ende des 17. Jahrhunderts über die Donau auf nach Südosten: Bauern und Handwerker aus Schwaben wie der Pfalz, aus dem Elsass und Lothringen. Sie folgten dem Ruf Habsburger Kaiser, verwüstetes Land wieder fruchtbar zu machen nach den Türkenkriegen. Die Mutigsten trug es noch übers Donaudelta hinaus – bis in die Steppen des Zarenreichs. Tausende Kilometer zu Wasser, Wochen der Entbehrung und eine ungewisse Zukunft vor Augen: Die Auswanderer, gewöhnt an die Fesseln deutscher Kleinstaaterei, gingen mit
der weiten Reise durch die Pannonische Tiefebene das Wagnis ihres Lebens ein.
Hunderttausende ließen sich nieder, zu beiden Ufern des Stroms, und setzten sich fest. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch bis zu eineinhalb Millionen Schwaben, wie deutschsprachige Siedler der Einfachheit halber später genannt wurden, in Kronländern Ungarns. Zusätzlich waren auf rumänischem Boden Siebenbürger Sachsen und Landler zu Hause, Zipser, Bergland-, Buchenland- sowie Dobrudschadeutsche.
Zwei Weltkriege und einen Systemkrach später – die Wende von 1989 – sind zwischen Budapest und Constanta allenfalls 120 000 Menschen deutscher Muttersprache verblieben. Geschlossene Siedlungen, Fotokulissen für Kreuzfahrt-Touristen auf Landgang, gibt es nicht mehr. Nur wer Umweg und Mühe nicht scheut, der trifft noch Übriggebliebene. Verstreut wie Findlinge auf weiter Flur, wie Treibgut am Donaustrand, bevölkern sie die Ufer als letzte Zeugen des Deutschtums in Südosteuropa: schwäbische Knopfharmonikaspieler am Rand der Puszta, Volksliedsänger zwischen
Kriegsruinen an der kroatischen Donau, und am Schwarzen Meer eine Dobrudschadeutsche, die als Kind dem rumänischen König diente.
Wudigess, Ungarn
Plötzlich stand er in der Tür, der Vetter aus dem Westen. Nach fast 40 Jahren. Die Verwandtschaft in Wudigess (Budakeszi) staunte nicht schlecht: Salopp war die Kleidung des Vetters und flott sein Mundwerk. »Ich kenne hier jede Straße«, sprach er beim ersten Besuch, »bis runter zum Budapester Moskau-Platz; Vater hat mir alles erzählt.« Der forsche junge Mann, der schon damals mehr wusste als andere, war Joseph »Joschka« Fischer, in Deutschland geborener Sohn des gleichnamigen Fleischhackers aus der Wudigesser Waldgasse 1.
Zwölf Jahre später, inzwischen als Bundesaußenminister vereidigt, erschien Joschka junior seiner ungarischen Sippe erneut. Diesmal erwartete ihn eine Hundertschaft Verwandter. »Die habe ich extra für ihn zusammengetrommelt«, sagt Katalin Dobos Fischer.
Cousine »Kata« ist 73 und so etwas wie die gute Seele des Fischer-Clans in Wudigess, einer vor den Toren Budapests im Ofener Bergland gelegenen Kleinstadt. Zwischen Gugelhupf und mürben Nussschnecken in ihrem Haus an der Petöfi-Straße breitet Kata Fotos aus, die den Vetter und werdenden Geostrategen Joschka zeigen, wie er in der Polstergarnitur seiner Blutsverwandten eigenen Wurzeln nachspürt.
Dass der ehemalige Steinewerfer dabei, mit einem strammen Großneffen im Strampelanzug auf dem Schoß, bisweilen komisch dreinschaut, erklärt Cousine Kata in der Mundart
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