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Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Großbongardt
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Morgengrauen kam nun erst der fürchterliche Anblick: Leichen über Leichen, Menschen und Pferde. Oft stachen nur noch die Wagendeichseln aus dem Eis, der Tod hatte reiche Ernte gehalten.
    An die 500 000 Menschen haben die Flucht über das Frische Haff bewältigt und die Häfen erreicht. Dort drängten sich schon vorher Hunderttausende. Es herrschte grausiges Chaos. Männer trugen erfrorene Verwandte, Frauen warfen Kinder in ablegende Boote, in der Hoffnung, sie würden gerettet. Viele Familien wurden für immer versprengt. An den Rampen stauten sich Verwundete mit blutigen Papierverbänden. Auf der Halbinsel Hela warteten mitunter 100 000 Flüchtlinge, bis das nächste Geleit eintraf. »Dann hatte man liebe Not, dass nach einem Luftangriff die Toten unter die Erde kamen«, beschrieb es ein Marineoffizier. »Die Truppe war so abgestumpft, dass die tote Frau und das verblutete Kind überhaupt nicht mehr zählten.«
    Manchmal beanspruchte ein Parteibonze seinen Exklusivplatz, Ostpreußen-Gauleiter Erich Koch wollte sogar Flüchtlinge von Bord werfen lassen. Kam ein Luftangriff, machte die Besatzung eilig die Leinen los – die Flüchtlinge in den Zubringerbooten blieben auf der eisigen See ihrem Schicksal überlassen. Eine abenteuerliche Flotte aus umfunktionierten Torpedobooten, Eisbrechern, Frachtern und Vergnügungsschiffen fuhr in einem verzweifelten Shuttle Richtung
Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Dänemark – meist völlig überladen, unter Beschuss von Jagdbombern und im Visier russischer U-Boote. Rund 33 000 Flüchtlinge starben bei der Flucht übers Meer, allein 9000 gingen mit der versenkten »Wilhelm Gustloff« unter. Immerhin gelang es, mehr als eine Million Menschen über die See zu retten.
    Weiter im Süden waren zu dieser Zeit schon die Weichen für ein weiteres Massenelend gestellt: die Zwangsaussiedlung der deutschen Bewohner Schlesiens und Pommerns. Schon im Spätsommer 1944 hatte die Sowjetunion mit dem Kreml-treuen »Komitee der Nationalen Befreiung« Polens ein Geheimabkommen geschlossen, das die polnische Westgrenze an der Oder-Neiße-Linie bekräftigte, was immer künftige Konferenzen mit den Westalliierten dazu noch beschließen würden. Es ging um Gebiete, auf denen rund 7,5 Millionen Deutsche lebten.
    Die erste große Fluchtwelle hatte hier bereits im Januar 1945 eingesetzt. In den nächsten Monaten versuchten so mehr als drei Millionen Deutsche ihr Leben vor der Roten Armee zu retten.
    Als die Sowjets und Polen im März, wiederum insgeheim, das Gebiet in fünf Woiwodschaften aufteilten, waren Zwangsaussiedlungen schon präzise vorbereitet. Sie begannen gleich nach Kriegsende, zuerst im neuen Westen Polens, ab Mitte Juni dann in ganz Pommern, Schlesien, aus den Masuren und dem Danziger Raum. »Schnell und rücksichtslos« sollte das nach Plan der Organisatoren geschehen, als »wilde Vertreibungen« haben es die Überlebenden im Gedächtnis. Armeeeinheiten, unterstützt von Polizeikräften und Milizen, kesselten die Bewohner in ihren Städten und Dörfern ein. »Mit den Deutschen ist so zu verfahren, wie sie mit uns verfahren sind«, befahl die Leitung der 2. Polnischen Armee; alles solle so »hart und entschlossen« geschehen, dass
die Bewohner bald von selbst wegliefen. »Das germanische Ungeziefer«, dröhnten die Generäle, solle »Gott danken, dass sie den Kopf noch auf den Schultern tragen«.
    In vielen Internierungslagern Polens wurde systematisch gequält und auch gemordet. Über 60 000 Deutsche dürften hier zu Tode gekommen sein. Geschlagen, ausgeplündert und gedemütigt, wurden andere Abschiebungskandidaten auf die Güterzüge nach Westen gejagt. Viele starben durch Gewalt und Strapazen auf dem Transport.
    Die Ausweisung traf alle Deutschen. Polen, die auf der deutschen Volksliste standen, mussten ein »Rehabilitierungsverfahren« durchlaufen. Wer abgelehnt wurde, kam in die Ausweisung als »feindliches Element«. Polen, die solchen Menschen halfen, drohte nach einem Gesetz vom 6. Mai 1945 die Todesstrafe.
    Noch Ende 1946 gab es Massenausweisungen. So wurden am 17. Dezember 1800 Deutsche aus dem Raum Stolp verjagt. Um sieben Uhr morgens bekamen sie den Befehl, bis Mittag in der Kreisstadt zu sein. Ein Betroffener berichtete für die Bonner Dokumentation, das meiste Gepäck sei schon auf einem Hof gestohlen worden, »wo ein Pole mit der Peitsche stand und wie wild auf uns einschlug«. Teils mussten sich »Männer und Frauen nackend ausziehen. Dabei wurden auch Schmuck und

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