Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Kontrollrat auf geregelte Formen der Aussiedlung. Präsident Beneš versprach zwar, nun »human, anständig, richtig, moralisch begründet« vorzugehen, und kündigte an, Verstöße zu bestrafen. Aber für einen großen Teil der etwa 2,5 Millionen Deutschen, die noch abtransportiert wurden, ging die Erniedrigung weiter. Immer noch hatten sie sich durch einen weißen Aufnäher mit schwarzem »N« (für »Německý«) als Deutsche kenntlich zu machen, durften weder öffentliche Verkehrsmittel, Lokale oder Parks besuchen und mussten vor tschechischen Offizieren die Mütze abnehmen.
Die amerikanische Besatzungsgruppe fühlte sich dagegen machtlos. Der US-Kommandierende Lucius D. Clay klagte über tschechische Schikanen sowie »besondere Schwierigkeiten« mit den Behörden; die hielten bei der Abschiebung erst einmal »junge kräftige Arbeiter zurück, während man uns die Alten, Frauen und die kleinen Kinder schickte«. »Erschütternd« fand Clay vor allem den Anblick, wenn die Vertriebenen in der US-Zone ankamen und aus den offenen Waggons wankten. Dabei stand den jüngeren, kräftigeren ein noch härteres Geschick bevor: Überall in ihrem Machtbereich trieben seit Anfang 1945 sowjetische Stellen Arbeitsfähige zusammen – für den Wiederaufbau des daniederliegenden Landes. Die sowjetischen Bergwerke, Baustellen, Landwirtschaft und Nutzwälder sollten mit deutschen Zwangsarbeitern ausgestattet werden.
Tatsächlich war der Sowjetunion auf der Konferenz von Jalta »reparation in kind« versprochen worden. Das hieß im Diplomatensprech »in Naturalien«. In der Interpretation
Stalins wurde es zum Alptraum für gut 700 000 deutsche Frauen und Männer. In wochenlangen Bahnfahrten wurden sie in Arbeitslager bis hinter den Ural verfrachtet. Die Bedingungen auf dem Transport und im Lager waren derart miserabel, dass ungefähr 270 000 Deportierte starben. Zu den Verschleppten gehörte auch die damals 16-jährige Eva-Maria S. Sie schilderte ihre Deportation nach Sibirien in Erlebnisberichten, die die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier in einem Buch («Verschleppt bis ans Ende der Welt«) gesammelt hat. Auszüge:
Als wir losfuhren, waren wir etwa 90 Menschen in einem Waggon… Die Fahrt ging durch Polen, wo öfter Steine gegen die Waggonwände flogen. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten des Transports erinnern, nur daran, dass bei uns im Waggon mehrere gestorben sind … Also habe ich mich gleich auf dem Transport gemeldet, die Toten wegzuschaffen … Die wurden von anderen Mädels rausgereicht und dann im Kohlewaggon oben auf die Kohlen geschmissen. Wenn die Gefangenen unten Kohlen für das Öfchen brauchten, rutschten die gefrorenen Leichen nach. Irgendwo unterwegs … haben wir mal etwa 30 Leichen aus dem Kohlewaggon rausgeholt.
Allerdings rollte der Zug durch die wüsten Trümmerlandschaften deutscher Kriegsführung. Dabei konnte manchem Gefangenen klarwerden, warum die Rache der Sieger so eskalierte.
Eva-Maria S. erlebte es so: »Das Schlimmste war für mich Weißrussland. Wir konnten ja durch den Stacheldraht aus unserem Fensterchen sehen, und da war plötzlich nur noch verbrannte Erde, zerstörte Dörfer, gesprengte Fabriken.«
Churchills Streichhölzer
Bei der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 handelten die Sieger über Nazi-Deutschland die Verschiebung Polens nach Westen aus. Es dauerte 45 Jahre bis die Bundesrepublik die »Oder-Neiße- Linie« endgültig als Grenze anerkannte.
Von Michael Sontheimer
Am östlichen Ende des brandenburgischen Dorfs Hohenwutzen führt die Hauptstraße auf eine eiserne Brücke. Der Viadukt überspannt den etwa 250 Meter breiten Strom, dessen braunes Wasser von Strudeln durchsetzt ist. Die meisten Fahrer, die ihre Autos über die Brücke steuern, übersehen die Betonstelen auf beiden Ufern des Flusses. Die beiden gut zwei Meter hohen Pfosten sind die einzigen Hinweise auf jene Grenze, die so lange im Westen Deutschlands höchst umstritten war. Der Pfosten auf dem westlichen Ufer der Oder ist schwarz, rot und gelb angestrichen; der auf dem östlichen Ufer weiß und rot. Auf ihm steht »Polska«. Es gibt keine Grenzkontrollen und keine Zollbeamten mehr. Auf den Flächen, wo einst die Baracken der polnischen und deutschen Beamten standen, wächst Unkraut über die Geschichte. Langsam erobert die Natur auch ein paar Kilometer in Richtung Nordosten bei Cedynia, einst Zehden, ein großes Denkmal: einen steinernen Adler auf einem Hügel. Das Monument erinnert an
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