Die Deutschen im Osten Europas: Eroberer, Siedler, Vertriebene - Ein SPIEGEL-Buch
Wertsachen weggenommen«. Es herrschten 20 Grad Frost, bis tief in die Nacht mussten die Letzten auf dem Bahnhof warten. Dann trieben Milizionäre sie mit Fußtritten in ungeheizte Güterwaggons.
Viele Polen waren selbst bei der Besetzung des östlichen Staatsgebiets durch die Sowjets westwärts verjagt worden. So hatten einige von ihnen sogar Mitleid mit den geschundenen Deutschen und halfen mitunter. In Niederschlesien drohte der neue Verwaltungschef, er werde »Anwendung unüberlegter und überflüssiger Grausamkeit« mit »ganzer
Härte« bestrafen. Doch das änderte im Großen und Ganzen nichts am Desaster der Abtransporte.
Politiker und Medien des Westens protestierten gegen die Ausschreitungen. Schon während der Potsdamer Konferenz begannen die Vertreiber Elendszüge nach Westen zu schicken. Auf Berlins Lehrter Bahnhof zogen die Amerikaner jeden Tag an die zehn Tote aus den Waggons. Die Ankunft eines Schiffes mit 300 fast verhungerten Kindern im Berliner Westhafen sorgte für wütende Proteste. »Die US-Regierung ist ernstlich bestürzt«, kabelte Washingtons Außenministerium nach Polen und protestierte gegen das »Massenelend und die schlechte Behandlung Schwacher und Hilfloser«. Der deutsche Emigrant Robert Jungk berichtete im Spätherbst 1945 über das »Totenland« im Osten: »Wer die polnische Zone verlassen hat und in russisch okkupiertes Gebiet gelangt, atmet geradezu auf. Hinter ihm liegen leergeplünderte Städte, Pestdörfer, Konzentrationslager, öde, unbestellte Felder, leichenbesäte Straßen, an denen Wegelagerer lauern und Flüchtigen die letzte Habe rauben.«
Aus der Tschechoslowakei war die Wehrmacht erst Anfang Mai 1945 abgezogen, über drei Millionen Deutsche, die zurückblieben, waren nun schutzlos. Am 5. Mai brach ein Aufstand kommunistischer und radikal nationaler Gruppen gegen die letzten Besatzer los. Auch hier begann die Jagd auf die restliche deutsche Bevölkerung. Die »Eliminierung der deutschen Minderheit«, wie sie die tschechische Exilregierung schon 1944 beschlossen hatte, machte die Nationale Front Anfang April zum offiziellen Programm, und das nahm erbarmungslos seinen Lauf. Hauptakteure waren Partisanen und Kräfte der »Svoboda-Armee«, die als tschechische Einheiten an der Seite der Roten Armee gekämpft hatten. Landesweit wurden Sudetendeutsche zur Ausreise gezwungen. Prags Deutsche wurden zu Tausenden interniert,
ausgeplündert und misshandelt. Else S., interniert auf dem Rittergut eines Prinzen Lobkowitz, beschreibt, wie sie »von früh bis spät« mit Essen »aus dem Schweinedämpfer« Zwangsarbeit leisten musste, 18 Monate lang. Auszug:
Vor Hunger aßen wir sogar die vergifteten Köder, die wir in die Kartoffelmieten legen sollten. Ein alter Mann wollte sich eine leere Blechbüchse vom Abfallhaufen holen, das sah ein Posten. Wir mussten alle antreten, der alte Mann musste sich bis aufs Hemd ausziehen, Arme hoch und auf einem Bein stehen und immer rufen: Wir danken unserem Führer – dabei wurde er ausgepeitscht, und wir mussten zusehen, bis er blutüberströmt zusammenbrach.
In Städten wie Tetschen, Aussig oder Königgrätz machten sich die bewaffneten Trupps über die Deutschen her, Tausende wurden getötet. Vorwände waren schnell bei der Hand: Als etwa in Ústí nad Labem (Aussig) eine Fabrik brannte, wurden Deutsche als Saboteure verdächtigt. Bewaffnete richteten daraufhin ein Blutbad an, mutmaßlich 2000 Menschen, meist Alte, Frauen und Kinder, wurden dabei totgeprügelt, erschossen oder von der Elbbrücke in den Fluss gestürzt.
27 000 deutsche Bewohner Brünns bekamen am 30. Mai gegen neun Uhr abends gerade zehn Minuten fürs Kinderanziehen und Packen. Dann zwangen Bewaffnete sie in langen Kolonnen Richtung Österreich aus der Stadt. Mitten auf dem Feld wurden Kinder und Frauen dann unter freiem Himmel für viele Monate interniert. Der Ort sei »zu einem Konzentrationslager geworden«, berichtete ein Reporter der »Daily Mail«. Die Abschreckung wirkte: Noch bevor in Potsdam die Vertreibung legalisiert wurde, waren rund 750 000 Deutsche aus dem Land gejagt. Immer wieder hatten westliche Offiziere gegen die Vertreibungsgewalt interveniert. US-Sanitäter behandelten Gewaltopfer, in provisorischen
Internierungslagern grassierte der Tod durch Hunger, Typhus und Misshandlungen. Manchmal verspürten die US-Soldaten sogar »Hass auf das befreite tschechische Volk«, meldete Robert Murphy, Berater der US-Militärregierung.
Nach Potsdam pochte der Alliierte
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