Die Deutschen
gewählte Kammer auf, noch ehe sie zusammengetreten ist, das heißt, sie annulliert die Wahlen. Die dritte verbietet das bestehende Wahlgesetz und oktroyiert ein neues auf, mit dem der Wahlbeeinflussung durch die bereits übermächtige Verwaltung Tür und Tor geöffnet wird. Die vierte endlich ernennt den Marschall Marmont, Herzog von Ragusa, zum Oberbefehlshaber der Truppen in Paris. Damit ist die Verfassung in ihren wesentlichsten Bestimmungen aufgehoben und praktisch die Diktatur proklamiert. Das Volk weiß, daß die Regierung ihre Maßregeln getroffen hat, um jeden Widerstand sofort zu ersticken. Für jede Klasse also, die betroffen ist, handelt es sich um Sein oder Nichtsein. Als erste handeln die Männer der Presse: sie sind es, die die revolutionäre Bewegung in Paris und die ersten Unruhen auslösen. An dem Tag, an dem die »Ordonnanzen« erlassen werden, fährt der König nach Rambouillet auf die Jagd. Gleich darauf schlägt Marschall Marmont im Tuilerienpalast sein Hauptquartier auf, und die Minister beschließen, für die Stadt Paris den Belagerungszustand zu erklären, sofern auch am andern Tag die Unruhen fortdauern.
Am Mittwoch, dem 28. Juli 1830, erschallen häufiger als der Ruf „Nieder mit den Ministern« die Schreie »Weg mit den Bourbonen!« Unter den Führern der Liberalen ist man sich nicht einig, ob man eine Revolution machen oder die Linie des »gesetzlichen Widerstandes« einhalten solle. Weit einiger sind sich die Volksmassen: auf dem Rathaus weht bereits die Trikolore, von den Türmen dröhnen die Glocken – offensichtlich steht die Revolution vor der Tür. Es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen mit dem Militär, das sich auf die Tuilerien zurückzieht.
Der entscheidende Tag ist der 29. Juli. Im Morgengrauen beginnt der Kampf aufs neue. Das Stadtinnere wird von den Soldaten geräumt. In dichten Massen drängt die Bevölkerung der Vorstädte auf die Quais und Boulevards. Der König glaubt immer noch nicht an Revolution. Schließlich erobern die Massen den Palast des Königs, den Louvre, und plündern ihn. Genauso ergeht es mit dem erzbischöflichen Palast und anderen öffentlichen Gebäuden. Die Krone Karls x . liegt am Boden.
Die Abgeordneten, die einzigen Träger einer legitimen Autorität, versuchen, sich der Leitung der Revolution zu bemächtigen. Der König will die Situation retten, indem er die »Ordonnanzen« zurücknimmt und seine Minister entläßt. Aber von der Straße her erschallt immer wieder der Ruf: »Keine Bourbonen mehr!«
Am Morgen des neuen Tages lesen die Pariser, was ihnen die Führer der Liberalen vorschlagen: keine Rückkehr für Karl x . »welcher das Blut des Volkes vergossen hat« und »die Berufung des Herzogs von Orleans, der die dreifarbige Fahne anerkennt und die Verfassung, so wie sie Frankreich immer verstanden und gewollt hat, akzeptiert«. Und so geschieht es.
Durch die Revolution, in der das Volk von Paris ohne eigentliche Führung im Laufe weniger Tage das Königtum der Bourbonen gestürzt hatte, ist die europäische Ordnung, wie sie 15 Jahre zuvor durch die vereinigte Diplomatie Europas unter Führung Metternichs aufgerichtet worden war, an der entscheidenden Stelle durchbrochen. Allenthalben hat man den Eindruck eines »furchtbaren Naturereignisses«, eines Erdbebens, dessen Wirkungsbereich sich über den größten Teil Europas erstrecken muß, da ja überall ähnliche Verhältnisse und zwangvolle Umstände herrschen. Die Ereignisse in Paris zeigen, daß die Kräfte, die man vor 15 Jahren mit Gewalt niedergeworfen hat, nicht schwächer, sondern im Gegenteil stärker geworden sind. Man hat die Revolution nicht verhindert, sondern nur verzögert. Die Volksmassen sind seit dem Jahre 1815 bewußter und tatkräftiger geworden.
Der erste Stoß, gleichsam die Fortpflanzungswelle eines großen Erdbebens, trifft eine Schöpfung der Wiener Staatskunst, von der man sich große Dinge versprochen hatte: das Königreich der Vereinigten Niederlande. Obwohl keine natürliche Grenze die Länder scheidet, stehen die südlichen Provinzen mit ihrer flämischen Bevölkerung in scharfem Gegensatz zu den Provinzen mit wallonischen Bewohnern. Der Versuch, sie mit Hilfe eines Königs und einer reaktionären Verfassung zu verbinden, mußte scheitern. Bei diesen gespannten Verhältnissen wirken die Nachrichten von der Julirevolution des benachbarten Frankreich wie Sprengstoff. Am 5. August wird im Theater in Brüssel die Oper »Die Stumme von Portici« gegeben, die den
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