Die Dienstagsfrauen zwischen Kraut und Rüben
zögernd und unsicher aus Estelles Blatt herausgelesen. Sie drehte
und wendete und interpretierte und konnte doch nichts an der Vorhersage ändern.
Der Rest ihrer Prophezeiung war in hysterischem Gegacker untergegangen, nachdem
Judith darauf bestanden hatte, dass es Zwillinge würden. Am selben Abend
eröffnete Estelles Mann seiner überrumpelten Gattin, dass er kürzertreten werde
und seinen Sohn und die Schwiegertochter in die Unternehmensführung berufen
hatte. Bis die beiden eine passende Bleibe gefunden hatten, würden Alexander
und seine frischgebackene Ehefrau Sabine bei ihnen wohnen. In ihren
Business-Anzügen sahen sie aus wie Zwillinge. Estelle war das Lachen vergangen.
Sie hatte nie den Wunsch verspürt, Mutter zu werden. Noch viel weniger
Stiefmutter.
Judith verbuchte das
Erscheinen der Stiefkinder als Durchbruch. Sie war auf dem richtigen Weg. Das
spürte sie. Die Kunst war, die Botschaften des Unterbewussten noch genauer zu
interpretieren. Aus der Kombination, die auf Estelles Schminktisch lag, konnte
selbst die blühendste Fantasie nichts Gutes herauslesen. Alle negativen Karten
schienen sich in dem Legemuster zu einer großen Katastrophe zu vereinen.
Judith fegte die Karten
energisch zu einem Stapel zusammen, mischte neu und fragte Estelle um Hilfe:
»Zieh neun Karten.«
Estelle griff beherzt
und ohne nachzudenken zu. Mit feierlicher Miene und angemessenem Ernst drehte
Judith die Karten um. Der Einzige, der sich für ihre spirituellen Künste
interessierte, war Oskar, Estelles schneeweißer Königspudel. Mit vollem Namen
hieß er »Oskar von Caniche der IV «. Das Französische
klang hochtrabend, hieß aber auch nur Pudel. Der edel getrimmte Vierbeiner
schaute Judith so erwartungsvoll in die Karten, als würde er tatsächlich etwas
davon verstehen.
Estelles Fragen an die
Zukunft waren momentan eher praktischer Natur: »Was glaubst du? Brauche ich
einen Föhn? Bademantel? Handtücher? Schlafsack? Zelt? Sollen wir Verpflegung
mitnehmen?«
Estelle gehörte zu den
statistischen 21 Prozent, die auch 24 Jahre nach der Wende noch nie in den Osten der
Republik gereist waren.
»Wir fahren nicht in
die hintere Mongolei. Wir fahren nach Mecklenburg-Vorpommern. Das zählt zur
zivilisierten Welt«, meine Judith.
»Ich habe nachgesehen«,
korrigierte Estelle. »Nach EU- Standard gilt das Gebiet
als unbesiedelt. 78 Einwohner auf einen Quadratkilometer.«
»Dafür 18 000 Seen«, ergänzte Judith.
Estelle, die gerade den
Reißverschluss des Koffers zugezogen hatte, verschwand wieder in ihrem
Ankleidezimmer. »Ich hab die Badesachen vergessen.«
»Du kannst jederzeit
nackt ins Wasser springen. Das ist die ehemalige DDR .
Die stehen auf FKK «, erklärte Judith.
»Ich bin über dreißig«,
meinte Estelle, »da braucht man seinen Ganzkörperbikini.«
Oskar, der das
Kartenset beschnüffelte, jaulte herzzerreißend auf. Judith konnte ihm nur recht
geben.
»Und? Was erwartet
uns?«, fragte Estelle und drängte sich neben Judith. Stand ihre Reise wirklich
unter einem schlechten Stern?
»Die Karten stammen aus
der Zeit des Biedermeier«, stammelte Judith. »Da kann man schon mal Probleme
haben, die Bilder zu deuten.«
Estelle verunsicherte
Judiths Ausweichmanöver. Sie bestand darauf, den Befund zu hören: »Ich habe ein
Recht darauf, mein eigenes Schicksal zu erfahren«, betonte sie.
Das Klingeln des
Telefons erlöste Judith von den inquisitorischen Fragen. Estelle nahm ab. Ihr
Lächeln erstarb. »Es ist Eva«, flüsterte sie. »Sie hatte einen Unfall.
Beinahe.«
»Das ist die Macht der
Intuition«, bemerkte Judith beeindruckt, nachdem sie gehört hatte, was in der
Schule passiert war. »Eva hatte längst begriffen, dass etwas nicht stimmt. Ihr
Körper ist spontan der Gefahr ausgewichen, bevor das Gehirn überhaupt
angesprungen ist.«
Evas Geschichte bewies
eindrucksvoll, wie wichtig es war, die innere Stimme zu trainieren. Judiths
Blick fiel wieder auf das Blatt, das einen Vorgeschmack auf die Reise nach
Mecklenburg-Vorpommern geben sollte. Einem glücklichen Ausgang der gemeinsamen
Unternehmung stand vor allem die Karte »Nº 8. Falsche Person« entgegen. Dazu
gesellten sich die Unheilsboten »Diebstahl« und »Traurige Nachricht«.
Nach Harmonie sah das
nicht aus.
»Ein Mann wird unsere
Freundschaft auf die Probe stellen«, versuchte Judith sich an einer Erklärung.
»Max?«, erkundigte sich
Estelle.
»Eher ein fremder
Mann«, meinte Judith.
Estelle ging ins
Ankleidezimmer und öffnete
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