Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
Hetty stampfte vor dem schmalen kleinen Kamin mit den Füßen, um Wärme hineinzubringen, dann sah sie im Lampenschein die verstreut herumliegenden Schuhe und Hutschachteln von Aaron & Son. »Gott, nein«, sagte sie und lächelte, nicht ohne eine Spur von Neid um ihren breiten Mund. »Ein neuer Freier, ja? Du hast solch ein Glück, Sybil Jones!«
    »Vielleicht.« Sybil nippte an dem heißen, aromatischen Zitronenlikör und legte den Kopf in den Nacken, um ihre Kehle zu entspannen.
    Hetty zwinkerte ihr zu. »Winterhalter weiß nichts von ihm, wie?«
    Sybil schüttelte den Kopf und lächelte. Hetty würde es nicht weitererzählen. »Weißt du was über Texas, Hetty?«
    »Ein Land in Amerika«, sagte Hetty ohne Zögern. »Gehört den Franzosen, nicht?«
    »Das ist Mexiko. Hättest du Lust, eine Kinotrop-Schau zu sehen, Hetty? Der frühere Präsident von Texas hält einen Vortrag. Ich habe Freikarten.«
    »Wann?«
    »Samstag.«
    »Da tanze ich«, sagte Hetty. »Vielleicht würde Mandy gehen.« Sie hauchte sich in die klammen Finger. »Ein Freund von mir kommt spätabends noch vorbei, würde dich nicht stören, oder?«
    »Nein«, sagte Sybil. Mrs. Winterhalter hatte eine strenge Vorschrift erlassen, dass die Mädchen keine Männergesellschaft in ihren Zimmern haben durften. Hetty missachtete diese Vorschrift oft, als legte sie es darauf an, dass der Hausbesitzer sie verriet. Da Mrs. Winterhalter die Miete direkt an den Hausbesitzer, Mr. Cairns, zahlte, hatte Sybil selten Ursache, mit ihm zu sprechen, und noch weniger mit seiner verdrießlichen Frau, einer unförmigen Person mit dicken Knöcheln und einer Vorliebe für schreckliche Hüte. Cairns und seine Frau hatten niemals etwas über Hetty gesagt, obwohl Sybil nicht recht wusste, warum, denn Hettys Zimmer lag neben dem ihrigen, und Hetty veranstaltete einen schamlosen Lärm, wenn sie Männer nach Hause brachte – meistens ausländische Diplomaten, Männer mit fremdartigen Akzenten und, nach den Geräuschen zu urteilen, schweinischen Gewohnheiten.
    »Du kannst ruhig weitersingen, wenn du willst«, sagte Hetty und kniete vor der mit Asche bedeckten Glut nieder. »Du hast eine gute Stimme, solltest deine Begabung nicht ungenutzt lassen.« Fröstelnd begann sie, einzelne Kohlenstücke in die Glut zu legen. Eine schreckliche Kälte schien durch die Flügel der zugenagelten Fenster hereinzudringen, und einen seltsamen Augenblick lang glaubte Sybil, einen deutlich wahr nehmbaren Druck in der Luft zu fühlen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, von Augen, die aus einem anderen Reich auf sie blickten. Sie dachte an ihren toten Vater. Bilde die Stimme aus, Sybil, lerne sprechen! Es ist alles, was wir haben, das sie bekämpfen kann, hatte er ihr gesagt. Das war in den letzten Tagen vor seiner Verhaftung gewesen, als sich abgezeichnet hatte, dass die Radikale Partei wieder gewonnen hatte. So gut wie allen politisch Interessierten war das vorher schon klar gewesen, außer vielleicht Walter Gerard. Damals hatte sie mit bedrückender Klarheit den ganzen Umfang der Niederlage ihres Vaters gesehen. Seine Ideale waren verloren – nicht nur unangebracht, sondern völlig ausgelöscht aus der Geschichte, wieder und wieder zerschmettert, wie der Kadaver eines überfahrenen Hundes unter den ratternden Rädern eines Schnellzugs. Lerne sprechen, Sybil! Es ist alles, was wir haben …
    »Liest du mir vor?«, fragte Hetty. »Ich mache derweil Tee.«
    »Ja, gern.« In ihrem ungeordneten Zusammenleben mit Hetty war das Vorlesen eines der kleinen Rituale, die ihnen als Häuslichkeit galten. Sybil nahm die Illustrated London News vom Tisch, ordnete ihre Krinoline in den knarrenden, feucht riechenden Sessel um sich und überflog mit zusammengekniffenen Augen einen Artikel auf der ersten Seite. Er befasste sich mit Dinosauriern.
    Die Radikale Partei war wie verrückt nach diesen Dinosauriern, so schien es wenigstens. Eine Lithographie zeigte eine Gruppe von sieben Personen, angeführt von Lord Darwin, die alle angespannt auf ein unbestimmtes Objekt starrten, das in ein Kohlenflöz im deutschen Thüringen eingebettet war. Sybil las laut die Bildunterschrift und zeigte Hetty die Darstellung. Ein Knochen. Das Ding in der Kohle war ein riesiger Knochen, so lang, wie ein Mann groß war. Sie schauderte. Beim Wenden der Seite stieß sie auf eine künstlerische Darstellung des Lebewesens, wie es einmal ausgesehen haben mochte, eine Monstrosität mit einer Doppelreihe gewaltiger dreieckiger Zacken auf dem

Weitere Kostenlose Bücher