Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
erlauben wollen?
Das Netz lässt sich nicht dauerhaft zensieren
Eine der wunderbarsten, am meisten verdammten und am meisten geschätzten Eigenschaften des Internets ist seine Architektur. Schneidet man einen Weg ab, findet sich früher oder später auf die eine oder andere Weise ein anderer Weg, um ans Ziel zu gelangen. Das Internet ist von vorneherein darauf ausgelegt, dass Informationen nicht zwangsläufig der »einen« Route folgen müssen, sondern sich ihren Weg suchen können. Dieser Umweg kann manchmal etwas langsamer, manchmal etwas umständlicher sein, aber am Ende steht fast immer die erfolgreiche Übermittlung von Daten. Das ist Demokratie pur.
Dass dies nicht in jedermanns Interesse ist, versteht sich von selbst. Selbst in den zensurwütigsten Regimen der Welt, im Iran, in China und bis zum Januar 2011 auch in Tunesien, klappte es trotz aller möglichen Barrieren, die von staatlicher Seite errichtet wurden, nicht, das Netz vollständig unter Kontrolle zu bekommen und die Menschen ihrer Kommunikationsmöglichkeiten zu berauben. Der Arabische Frühling, oft als »Facebook-Revolution« bezeichnet, ist durch das Netz befördert worden. Aber der Auslöser lag woanders: Durch das Netz hatten Menschen, die den härtesten Überwachungsrepressalien und politischer Verfolgung ausgesetzt waren, das Gefühl, dass sie nicht allein sind. In der oft gar nicht existenten, aber gefühlten Anonymität des Netzes tauschten sich diejenigen aus, die mit den Kleptokraten, den Nahrungsmittelpreisen, der Beschränktheit und Perspektivlosigkeit der Jugend in den arabischen Ländern unzufrieden waren. Es war nicht das Netz, was manchen den Tod oder Verletzungen, Gefängnisstrafen und Misshandlungen brachte, es war auch nicht das Netz, was die Diktatoren in Frage stellte. Das Netz ermöglichte aber Kommunikation unter denen, unter denen es schon längst gärte.
Wenn man viele Unzufriedene miteinander in Kontakt bringt, kann daraus eine Bewegung entstehen. Ob diese Erfolg hat, hängt aber nicht vom Internet ab. Es kann dazu genutzt werden, aber am Ende fällt die Entscheidung über Wohl und Wehe von Menschen und Ländern nicht im Internet. Es ist eine Infrastruktur, es schafft Verbindungen über Raum, Zeit und Orte hinweg zwischen Menschen, transportiert Inhalte von Maschinen zu Maschinen. Hätten wir aus Tunesien und Ägypten genauso viel gehört, wenn nicht die Menschen dort, vor Ort, über das Netz miteinander und damit auch mit der Außenwelt kommuniziert hätten? Wenn nicht Aktivisten Bilder direkt vom Kairoer Tahrir-Platz ins Netz gespeist hätten – allen Widrigkeiten wie dem Versuch der Regierenden, das Netz abzuschalten, zum Trotz? Obwohl Regime auch selbst das Netz nutzen, um Menschen zu identifizieren und zu verfolgen? Was teils sogar sehr viel einfacher ist, als es in anderen, nichttechnischen Umgebungen ist.
Die Kommunikation ermutigt Menschen. Am Beispiel Syrien sieht man sehr gut, was das bedeutet. Dort ist das Netz weitgehend abgeschaltet, aber es ist der einzige halbwegs funktionierendeKanal nach außen. Auch deshalb, weil Menschen von außerhalb wie die Aktivisten des Telecomix-Netzwerks immer wieder Löcher in die Sperren des Regimes bohren und so dafür sorgen, dass mehr aus dem Land herausdringt, als dem Regime lieb ist. Ohne das Wissen um die Vorgänge vor Ort schaut die Weltgemeinschaft schneller weg, als gut ist. Das Netz bildet das Scharnier zwischen den Welten.
Natürlich hat dieser Zustand des durch seine Struktur intelligenten, aber inhaltlich ignoranten Netzes, das sich nicht um die Inhalte des von ihm vermittelten Datenverkehrs kümmert, auch seine Nachteile. Eine wichtige E-Mail wird genauso behandelt wie Werbemüll, es gibt keine Unterscheidung zwischen dem neuesten Video von Unterdrückungsversuchen des Regimes in Syrien und dem neuesten Lady-Gaga-Hit. Aber wie oft man das Blatt dreht und wendet: Selbst wenn die Versuchung groß ist, das Netz »klug« zu machen und an den Schaltstellen Filter, Bremsen und Beschleuniger einzusetzen, damit unliebsame Inhalte nicht mehr übertragen werden oder andere schneller durch das Netz transportiert werden, man wird immer wieder an dem gleichen Punkt ankommen: Niemand sollte bestimmen, was wie durch das Netz transportiert wird. Das Netz ist klug genug, alles von A nach B zu bringen. Und wir sollten klug genug sein, es dabei zu belassen.
Sich einbringen, aber die Verschwörungstheorie zuhause lassen
Mittlerweile haben wir eine andere Debatte über das
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