Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
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Höhepunkt dieser Auseinandersetzung zwischen Bloggern und Politikern war der Hinweis von Ursula von der Leyen, in Indien sei Kinderpornografie nicht verboten. Deswegen würden die Netzsperren gebraucht. Dutzende Blogger und ihre Leser schrieben daraufhin die indische Botschaft an und fragten nach der Gesetzeslage. Die indische Botschaft sah sich genötigt, in einem Schreiben die eigene Gesetzeslage darzulegen und die damalige Familienministerin zu korrigieren. Selbstverständlich machte auch diese Nachricht die Runde. Damit war das Länderraten vorbei. Es hieß dann nur noch: »In Afrika gibt es Staaten …«
Ursula von der Leyen und das Internet: Daraus sollte keine Freundschaft mehr werden. Nachdem das Zugangserschwerungsgesetz mit den Stimmen der großen Koalition durch den Bundestag gebracht wurde, begann die heiße Zeit des Wahlkampfes 2009. Ursula von der Leyen, die während der Diskussion immer wieder darauf hingewiesen hatte, sie würde selbstverständlich die Debatte nicht zu Wahlkampfzwecken instrumentalisieren, reiste durch die Republik, um für Stimmen für die Union zu werben. In Sulzbach an der Saar sprach sie zu einem mehrheitlich aus Senioren bestehenden Publikum und fühlte sich in ihremElement. In einer rhetorisch wie demagogisch eindrucksvollen und zielgruppen-kompatiblen Rede rekapitulierte sie die Debatten um Netzsperren, führte bereits widerlegte Argumente an, wie die Staaten, in denen Kinderpornografie nicht geächtet sei, und äußerte sich verächtlich über die Kritiker der Diskussion. So konnte sie sich vor diesem Publikum als Vorkämpferin im Kampf gegen Kindesmissbrauch inszenieren. Früher wäre das auf den Ort der Veranstaltung begrenzt geblieben. Die Teilnehmer sind sicher mit dem Gefühl nach Hause gegangen, hier einer mutigen Frau begegnet zu sein, die sich gegen alle Widerstände für etwas Gutes eingesetzt hatte.
Aber da war noch ein junger Mensch vor Ort, der wahrscheinlich nur gekommen war, um ein paar Fragen zu stellen. Er hatte ein Smartphone dabei, das mit einer Kamera ausgestattet war, 2009 nicht mehr unüblich. Er hielt seine Kamera auf die Rednerin Ursula von der Leyen, nahm rund zehn Minuten der Rede auf und stellte diese anschließend auf YouTube. Das Video wurde rasch von vielen Blogs gespiegelt, und auf einmal fand sich eine ganz andere Öffentlichkeit als Rezipienten wieder, für die dieser Vortrag nicht mehr so zielgruppen-kompatibel war. Dazu zählten viele Kritiker des Gesetzes, die sich durch die Rede beleidigt und in eine bestimmte Ecke gerückt fühlten. Mehr als 85 000 Mal wurde dieses Video auf YouTube abgerufen, die Mitschrift der Rede fand noch einmal mehr Leser.
Man kann sich als Politiker heute nicht mehr darauf verlassen, dass das, was an einem Ort gesagt wird, eben auch nur dort und für die dort zuhörenden Menschen zugänglich ist. Und das ist zweifelsohne gut so.
Ein Bundespräsident stolpert über ein Blog
Am 22. Mai 2010 sollten diese neuen medialen Öffentlichkeitsmechanismen erneut eine größere Aufmerksamkeit erlangen. Das Deutschlandradio Kultur sendete ein Interview mit dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler zum Engagement der Bundeswehr in Afghanistan, aufgenommen im Flugzeug. Der Präsident redete dabei viel und er sagte wenig, er wirkte eher lustlos und matt als daran interessiert, zum Volk zu sprechen.Aber er äußerte sich zu einigen Themen. Der Radiosender sendete nur kleine Ausschnitte. Dabei fiel der Satz, Deutschland mit seiner Außenhandelsabhängigkeit müsse »zur Wahrung seiner Interessen im Zweifel auch zu militärischen Mitteln greifen«. Als Beispiel für diese Interessen nannte Köhler »freie Handelswege«. Vielleicht hätte diese Aussage von vorneherein mehr Aufmerksamkeit gefunden, wenn es nicht der Pfingstsamstag 2010 gewesen wäre. Das Wetter war wunderschön, und viele Journalisten hatten über das verlängerte Wochenende frei.
Doch später war das Interview im Onlineangebot des Deutschlandradio Kultur verfügbar. Blogger stolperten über den Wortlaut. Einer davon, Stefan Graunke, schrieb auf seinem Blog unpolitik.de unter dem Titel ›Unser Volk braucht Markt‹ darüber und stellte die Frage: »Wirklich, Herr Köhler? Öffentlich zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ziele durch militärische Gewalt aufrufen?« In den kommenden Tagen wurde der Inhalt des Interviews weiter fast nur in Blogs diskutiert. Es gab zwar eine Meldung der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) mit dem
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