Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
Zitat, aber diese wurde nicht weiter journalistisch verarbeitet. Am Donnerstag darauf sendete das Deutschlandradio erneut die Äußerung, in einem Interview mit dem CD U-Politiker Ruprecht Polenz. Darauf angesprochen, sagte Polenz, Bundespräsident Köhler habe sich »missverständlich ausgedrückt«. Damit war das Interview in eine größere Öffentlichkeit gerückt, und die Äußerung wurde schnell von vielen Massenmedien aufgenommen, erweitert um kritische Kommentare der Opposition.
Ab da ging alles schnell. Am Samstag darauf veröffentlichte der ›Spiegel‹ eine Vorabmeldung zu einer größeren kritischen Story über Köhler, am Anfang der darauffolgenden Woche trat dieser dann zurück. Auch wenn die ›Spiegel‹-Story größeren Einfluss auf den Rücktritt gehabt hat, wäre es ohne die Rolle der Blogger nicht so weit gekommen. Blogger hielten durch ihre Berichterstattung und Diskussion die Geschichte am Leben, die sonst aufgrund des schönen Wetters und des verlängerten Wochenendes ohne viel Aufmerksamkeit erst versendet und damit auch versandet wäre.
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Gemeinsam in die Gesellschaft von morgen?
Was lässt sich aus diesen Ereignissen und Beobachtungen schließen? Die Bundesrepublik ist noch weit entfernt von einer Informationsgesellschaft, solange ihre politischen Entscheider und viele der wirtschaftlichen Akteure, aber auch viele Bürger das Netz vorrangig als eine potenzielle Bedrohung begreifen. Diese Haltung führt in erster Linie zu Scheindebatten, zu widersinnigen Regeln und zu vielfältigen Problemen. Das Netz muss begriffen werden als das, was es ist: ein wunderbarer Gestaltungsraum, der uns dazu zwingt, auch althergebrachte Normen und Werte, Organisationsformen und vordergründig akzeptierte Zustände in Frage zu stellen und diese neu zu denken, um am Ende Wege zu finden, die in die Zukunft führen. Der Mangel an technischem Verständnis auf Seiten von Politik, in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft ist eklatant. Auch viele Nutzer haben noch keine wirkliche Vorstellung davon, welche Tragweite die technischen Veränderungen haben, welche Bruchlinien sie erzeugen oder aufzeigen. Es fehlt an dem Bewusstsein, dass mit dem technischen zugleich auch ein Normenwandel einsetzt, der dringend gestaltet werden muss. Es wird wohl mindestens noch eine Generation dauern, bis der Diskurs wirklich breit und interdisziplinär stattfinden kann.
Aber das kann an vielen Stellen zu spät sein. Wesentliche Weichen für unsere Zukunft werden heute gestellt. So wie es sich beim Datenschutz verhält – man kann seine Privatsphäre aufgeben, aber nicht mehr zurückbekommen –, so verhält es sich auch bei anderen netzpolitischen Großbaustellen: Das Netz ist zu wichtig geworden, um es den Ahnungslosen unter den Politikern zu überlassen.
Netizens, Nationalstaaten und Schurken
Machen wir uns nichts vor. Das Internet und die Debatten darüber sind ein Spiegel der weltpolitischen Situation. Das Netz ist ein im demokratischen Westen entstandenes Ding, mit dem die Diktaturen dieser Welt in seiner Reinform nichts anfangenkönnen. Es fordert, wie wir hoffentlich in diesem Buch gezeigt haben, auch manche Norm- und Wertvorstellungen in unseren ach so demokratischen und pluralistischen westlichen Gesellschaften heraus.
Müssen wir damit leben, dass wir nicht jeden Verbrecher fangen können, auch wenn seine Taten noch so widerlich sind? Ja, das werden wir müssen. Denn es gibt keine Alternative. Wenn wir unsere Gesellschaften so abzusichern versuchen, dass uns nichts mehr passieren kann, dass Menschen selbst mit größter krimineller Energie nicht mehr kriminell werden können, dann landen wir in einer Diktatur, die ihre Bürger immer und bei jeder Gelegenheit überwacht, um kleinste Anzeichen für ein potenzielles Fehlverhalten zu finden.
Wenn wir heute auf manchen Flughäfen ohne unser Wissen per Wärmebildkamera gecheckt werden, ob wir nicht hohes Fieber haben und damit eventuell schwere Krankheiten zum Zielort transportieren, wenn unser Genom vielleicht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychische und gesundheitliche Probleme enthält, wenn wir aufgrund von Mustererkennung schon bei Kindergartenkindern sagen könnten, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit später Straftaten begehen werden, weil sie im »falschen« sozialen Umfeld groß werden, was heißt das dann für uns? Was ist uns das Individuum wert, wo ziehen wir die Grenzen dessen, was wir uns an Schlüssen und potenziellen Fehlschlüssen
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