Die digitale Gesellschaft - Lüke, F: Die digitale Gesellschaft
ganz erstaunt in die Kamera, als er erfuhr, dass schon Kinder Webseiten bauen können, und der Grüne Christian Ströbele hatte schon einmal davon gehört, dass es Suchmaschinen gibt, er selbst würde so etwas aber nicht nutzen. Und dann war da noch die damalige Justizministerin, mit zuständig für viele Gesetze zum Internet. Auf die Frage, welchen Browser sie nutzen würde, schaute Brigitte Zypries (SPD) irritiert zu ihren Mitarbeitern hinüber und fragte dann in die Kamera: »Browser, was sind noch mal Browser?« Nun konnte man davon ausgehen, dass sie nur auf dem falschen Fuß erwischt wurde und einen Browser schon als Selbstverständlichkeit ansah, den man zum Surfen im Netz benötigte, aber diese Frage wurde für einige Jahre der Standard, um das Verhältnis von Politik zum Netz zu beschreiben.
Und noch etwas hatte sich verändert. Früher wäre dieser Beitrag im AR D-Morgenmagazin »versendet« worden, wie die Medienleute sagen. Die Zuschauer hätten kurz darüber gelacht,und anschließend wären die Zitate wieder vergessen worden. In diesem Fall hatte jemand den Beitrag mitgeschnitten und kurz nach der Ausstrahlung an netzpolitik.org geschickt. Dort wurde er online gestellt und verbreitete sich in den kommenden Stunden und Tagen durch eine Vielzahl von Blogs und Webseiten weiter. Dadurch erreichte der Beitrag der Kinderreporter eine größere Aufmerksamkeit (und vielleicht auch Wirkung) als durch die Ausstrahlung im morgendlichen Fernsehprogramm, das zwischen Zahnputzbecher und Türklinke »mitgenommen« wird.
Während sich früher in der Medienrealität Beiträge im Radio und Fernsehen schnell versendeten, bedeutet die spätere Verfügbarkeit in Mediatheken, oft verbunden mit Transkripten, also Wortprotokollen, eine größere Transparenz. Damit verbunden ist auch eine größere Kontrollmöglichkeit über das, was Politiker den lieben langen Tag so fordern und erzählen. Vor allem bei Radiointerviews macht sich das bemerkbar. Was früher ein Politiker morgens im Deutschlandfunk erzählte, erreichte in der Regel nur dann eine größere Öffentlichkeit, wenn andere Medien Zitate übernahmen. Letzteres kommt auch heute noch häufig vor: Wer morgens im Deutschlandfunk ist, taucht vormittags in der Rubrik »Was halten die Kollegen für wichtig« in den Redaktionssitzungen der Tageszeitungen und Abendhauptnachrichten auf. Aber eben nicht mehr nur dort.
In der Diskussion um das Zugangserschwerungsgesetz zeigten sich im Sommer 2009 gleich mehrfach die veränderten Medienrealitäten. Ein beliebtes Argument von Politikern, um die Idee von Netzsperren gegen kinderpornografische Inhalte zu verkaufen, war der Hinweis, dass es Staaten geben würde, auf die unsere Sicherheitsbehörden keinen Zugriff hätten und wo diese Inhalte für jedermann zugänglich seien. Dahinter stand der Gedanke, dass es zu einem digitalen Vorhang mit Hilfe einer Zensurinfrastruktur keine Alternative gäbe. Dass Kinderpornografie weltweit geächtet ist und auch die Statistiken der Sicherheitsbehörden immer wieder darauf hinwiesen, dass diese Inhalte auf Servern in Staaten wie USA, Niederlande, England und auch Deutschland zu finden sind, wurde dabei gerne übersehen. Mehrfach wurden Ursula von der Leyen und einige ihrer Kollegen in den entscheidenden Wochen der Diskussion imRadio mit der Frage konfrontiert, in welchen Staaten es denn Probleme mit der Bekämpfung von Kinderpornografie gebe.
Interessierte Nutzer erfuhren von diesen Interviews in der Regel über die Suche nach bestimmten Stichwörtern auf Google-News. Dort werden auch die Transkripte von vielen Radiobeiträgen auf Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und anderen Sendern angezeigt. So erfuhr man, dass die zu sperrenden Inhalte auf Servern in Kasachstan oder Paraguay zu finden seien. Daraufhin setzte ein spannender Faktencheck-Wettlauf ein: Blogger schrieben darüber und baten um Hinweise, ob das denn auch stimmte. Leser dieser Blogs recherchierten und stellten fest, dass es in diesen Staaten teilweise schärfere Gesetze gegen Kinderpornografie als in der Bundesrepublik gab. Sie fanden heraus, dass die genannten Staaten auch sonst als nicht besonders geeignet für den Vertrieb über das Netz angesehen werden konnten, weil sie nicht über schnelle Infrastrukturen im Netz verfügten. Und komischerweise tauchten sie nicht einmal in den Statistiken des BKA und anderer Sicherheitsbehörden auf. Ein Staat nach dem anderen fiel aus als Quelle für solche inkriminierten
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