Die Dilettanten
erklärt »die massivste Leistungsreduktion in der bundesdeutschen Sozialgeschichte« (Franz Walter) für teilweise verfassungswidrig: Der Regelsatz für Minderjährige von 211 Euro im Monat sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Das Landessozialgericht Hessen findet sogar, Hartz IV sei insgesamt ungerecht und verweigere den Familien ein »soziokulturelles Existenzminimum«. Christian Bommarius von der
Berliner Zeitung
meint, »dass der Gesetzgeber sich schämen müsste, hätte er nicht im Umgang vor allem mit Familien als Hartz-IVEmpfänger längst jedes Schamgefühl verloren«. 11
Zu Stümperei und Sozialraub kommt auch noch Schmu: Selbst Hessens Sozialministerin Silke Lautenschläger wirft der Regierung und der Bundesagentur für Arbeit »Statistik-Schwindel« vor: So rechnet man unter anderem die Ein-Euro-Jobber, die über 58-Jährigen, die Teilnehmer an Fortbildungskursen heraus und kommt auf 3,6 Millionen Arbeitslose. Addiert man aber die Bezieher von ALG I und II – 1,1 und 5,1 Millionen –, so kommt man auf 6,2 Millionen Erwerbslose. Grund für das Tricksen, frei nach dem antiken Römischen Senat: »Wenn die Sklaven sehen, wie viele sie sind, fegen sie uns hinweg.«
Auch die Spätfolgen früher neoliberaler Exzesse häufen sich. So fordert die Post pünktlich zum 20-jährigen Jubiläum ihrerPrivatisierung, samstags keine Briefe mehr zustellen zu müssen.
Nach der Devise »Nationalismus statt Menschwürde« verabschiedet der CDU-Parteitag 2008 die Forderung nach Deutsch im Grundgesetz. Nötig scheint es zu sein, wenn man sich die Pisa-verdächtige Begründung des saarländischen Amateurgermanisten Peter Müller anhört: »Deutsch ist deutsch sprechen und deutsche Identität« – für den Diplomlästerer Henryk M. Broder hat der Satz »gute Chancen, von kommenden Abiturientenjahrgängen auf seine formale und inhaltliche Richtigkeit überprüft zu werden«. 12
Überhaupt das leidige Dauerthema Bildung: Bildungsministerin Schavan will allen Ernstes »Top-Mitarbeiter« aus der Wirtschaft als Lehrer einsetzen. »Die Schulmisere sollen also Manager beheben, die Banken ruiniert haben«, folgert die
Süddeutsche Zeitung.
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Wesentlich begünstigt werden diese Glanzlichter des Dilettantismus durch eine atemberaubende Ausbildung und Kompetenz: Hindert selbst bei allem guten Willen schon allein der Mangel an Fachwissen viele Volksvertreter an einer Arbeit für das Gemeinwohl?
Würden Sportler für die Olympiamannschaft so nominiert wie Politiker für die Fachressorts, so träte eine gelernte Hochspringerin im Gewichtheben, ein Turmspringer im Freistilringen, eine Diskuswerferin im Dressurreiten und ein Hürdenläufer im Degenfechten an.
Jurist Olaf Scholz war früher Hamburger Innensenator und SPD-Apparatschik. Mit seinem Ressort »Arbeit und Soziales« hatte er zuvor aber laut Vita nichts zu tun.
Jurist Franz Josef Jung war Europaminister in Hessen, hatte mit dem Ressort Verteidigung nie etwas zu schaffen und bekam denJob wohl als Dank, dass er in Roland Kochs Spendenaffäre das Bauernopfer gespielt hatte.
Sonderschullehrerin Ulla Schmidt ist für Gesundheit zuständig, Elektroingenieur Wolfgang Tiefensee für Bau und Verkehr, Elektrohandwerkerin Ilse Aigner für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Englischlehrer Sigmar Gabriel für Umwelt und Reaktorsicherheit, und lange Zeit war Müllermeister Michael Glos Bundesminister für Wirtschaft.
Die Kanzlerin selbst ist Physikern, was dem tumben Wahlvolk schon mal als Garantie für logisches Denken und Qualifikation für die Leitung der Staatsgeschäfte verkauft wird.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Regierung zum Spielball der verschiedensten »Berater« und Interessengruppen werden muss. Denn selbstverständlich vollbringen unsere Politiker ihre Glanztaten nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Abhängigkeitsgeflecht:
So üben zum Beispiel die Medien, »die Wirtschaft« und einzelne Konzerne, die Gewerkschaften, die Kirchen und nicht zuletzt die eigenen Parteiführungen mehr oder minder Druck auf unsere Volksvertreter aus: Was aber ist tatsächlich ein »Sachzwang« und was nur dumme Ausrede?
Dies führt schließt zu der Frage, ob »Kompetenz« nicht neu definiert werden muss. Eine der Lehren aus der Weltfinanzkrise lautet, dass der Mensch eben nicht für die Wirtschaft da zu sein hat, sondern umgekehrt: Dass also reines Expertentum nichts ist ohne die soziale Kompetenz.
A. Alle vier Jahre wieder: Die Parteien vor der
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