Die Dirne und der Bischof
erkundigte sich Elisabeth, die sich neugierig umsah. Jedes Haus, jeden Hof, jeden Strauch starrte sie an, ob sie ihn nicht vielleicht wiedererkennen würde, doch nichts regte sich in ihrem von düsterem Nebel erfüllten Gedächtnis.
»Auf den Markt. Dort drüben unter dem Turm ist das Tor, durch das wir in die innere Stadt kommen.« Elisabeth legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Turm, sah sich die Brücke und das Tor an, vor dem die beiden Wächter standen. Nichts. Nur Dunkelheit. Vielleicht war sie hier zuvor noch nicht gewesen? Und doch schwang da etwas in ihrer Seele, als sie durch die Gassen ging, den Blick an den Häuserfassaden entlanggleiten ließ und dem Strom der geschäftigen Menschen auswich.
Bald erreichten die beiden Frauen den Markt, dessen Stände sich die Domstraße entlang bis in die engen Quer gassen zu beiden Seiten erstreckten. Sie kauftenGemüse und Äpfel, schlenderten über den Eiermarkt und erstanden noch ein Stück Speck, der heute unter das Gemüse des Eintopfs geschnitten werden würde.
Jeanne plapperte die erste Stunde ohne Unterlass. Immer wieder stellte sie Fragen, auf die sie aber nur einsilbige Antworten erhielt.
»Sehr gesprächig bist du nicht gerade«, sagte sie, als sich die beiden Frauen bereits wieder dem inneren Pleichacher Tor näherten.
Elisabeth seufzte. »Was soll ich dir sagen? Es ist ein seltsames Gefühl, erwachsen und doch neu geboren zu sein. Ihr alle habt eine Geschichte und Erinnerungen. In meinem Kopf wallen - bis auf ein paar vereinzelte Bilder - nur finstere Nebel, die ich nicht durchdringen kann. Ich weiß nichts! Du nennst mich Elisabeth, und vermutlich habe ich auch vorher so geheißen, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Auch wenn ihr alle sehr freundlich zu mir seid, ist das Leben hier bei euch wie ein Gewand, das für jemand anderen genäht wurde und nun an der einen Stelle zu weit und an der anderen zu eng ist. Ich bin ein Baum, der seine Wurzeln verloren hat und umgestürzt ist. Ich habe mit meinen Erinnerungen auch meine Familie und mein Heim verloren, in das man zurückkehren und wo man sich geborgen fühlen kann.«
Jeanne blieb stehen, drehte sich zu ihr um und tätschelte mitleidsvoll ihren Arm. »Das Frauenhaus ist jetzt dein Heim, und wir werden dir eine Familie sein.« Sie lächelte schelmisch. »Und wie in jeder Familie liebt man den einen mehr, den anderen weniger, man zankt sich ab und zu und rauft sich die Haare aus. Und die Meisterin ist unser aller Mutter. Streng und unnachgiebig, aber auch gerecht. Wir müssen hart für sie arbeiten, dafür hat sie ein wachsames Auge auf alles, was vor sich geht, und sie scheut sich nicht, selbst Ritter oder Ratsherrn zur Ordnung zu rufen, wenn sie über die Stränge schlagen. Zweimal hat sie sogar nach dem Henker geschickt, als sich eine Gruppe Betrunkener gar nicht zügeln ließ. Ja, und als die Sache mit Ester passiert ist...« Ihre Miene verdüsterte sich.
Nun hätte sie Jeanne fragen müssen, doch Elisabeth fand nicht den Mut, sich auch noch den Rest an Illusion zu rauben, die sie nur noch mühsam aufrechterhalten konnte. Und dann war der Augenblick auch schon vorbei, und Jeanne strahlte wieder zu Elisabeth hoch, die sie um einen Kopf überragte.
»Du wirst sehen, es ist nicht so schlecht hier. Viele von uns haben schon schlimmere Zeiten erlebt und hier bei der Eselswirtin Frieden gefunden.«
Elisabeth nickte nur stumm. Sie fand Jeanne sympathisch, und auch mit den anderen Frauen ließ sich sicher auskommen - wobei sie ein wenig Angst vor der Meisterin verspürte, doch was war das für ein Leben hier? Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was in einem Frauenhaus vor sich ging, doch trotz ihres Gedächtnisverlustes konnte sie sich nicht länger der Wahrheit verschließen, dass das Leben zu der Zeit, als das Haus für bedürftige Frauen gebaut worden war, sich deutlich von den jetzigen Zuständen unterschieden haben musste. Dies war keine fromme Gesellschaft lediger Frauen mehr, wie beispielsweise die der Beginen, die sich für ihre Nächsten aufopferten. Schon allein, dass der Henker hier für Ordnung zu sorgen hatte, zeugte von der Sünde, die hier Einzug gehalten hatte. Tief in sich spürte Elisabeth, dass das nicht ihr rechter Platz auf dieser Erde war.
Im Frauenhaus angekommen, fanden sie die anderen in ihren Betten vor. Die meisten schliefen.
»Du solltest dich auch noch ein wenig hinlegen. Die nächtliche Ruhe ist hier nur kurz, und wenn die ersten Gäste kommen, ist es zu
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