Die Donovans 4: Der verzauberte Fremde
Wölfe waren Nachttiere, oder etwa nicht? Sie tauchten nicht einfach im hellen Sonnenschein auf, betrachteten sich die Menschen eine Weile und verschwanden dann wieder. Außerdem hatte Belinda nichts davon erwähnt, dass es hier Wölfe in dieser Gegend gab. Allerdings hatte Belinda auch nichts von Nachbarn oder anderen Blockhäusern gesagt. Und seltsamerweise hatte Rowan auch nicht danach gefragt.
Nun, irgendwo musste es wohl einen Nachbarn geben. Und der hatte einen riesigen, wunderschönen schwarzen Hund. Es gab hier wohl genug Landschaft, dass man sich nicht ständig über den Weg laufen würde.
Der Wolf beobachtete sie von seinem Platz im Schatten der Bäume. Wer war diese Frau? Was suchte sie hier? Sie bewegte sich fahrig, ein wenig nervös. Sah immer wieder über die Schulter zurück, während sie Sachen aus dem Wagen ins Haus brachte.
Er hatte ihre Witterung schon aus einer halben Meile Entfernung aufgenommen. Ihre Ängste, ihre Aufregung, ihre Sehnsüchte waren ihm zugeflossen. Und hatten ihn zu ihr gezogen.
Verärgert kniff er die Augen zusammen und fletschte die Zähne. Den Teufel würde er tun! Verflucht wäre er, sollte er sie anrühren! Verflucht, sollte er ihr gestatten zu ändern, was er war oder was er wollte.
Mit lautloser Geschmeidigkeit wandte er sich ab und verschwand im Dickicht.
Rowan machte Feuer. Entzückt beobachtete sie, wie die Flammen an den Scheiten aufzüngelten, dann machte sie sich systematisch ans Auspacken.
Viel zu verstauen gab es nicht. Ein paar Kleidungsstücke, einige Vorräte.
Die meisten Kartons, die sie mitgebracht hatte, enthielten Bücher. Die Bücher, ohne die sie nicht leben konnte. Bücher, die sie schon immer hatte lesen wollen, wenn sie endlich die Zeit dazu fand. Sachbücher, Bücher zur Entspannung. Von klein auf hatte sie eine starke Leidenschaft fürs Lesen entwickelt. Liebte es, die Welt durch Worte zu erforschen und zu erkunden.
Gerade wegen dieser Liebe zum Lesen fragte sie sich immer wieder, wie es kam, dass das Lehren sie nicht erfüllte.
Es hätte doch der perfekte Beruf für sie sein müssen, so, wie ihre Eltern es immer behaupteten. Lernen hatte ihr immer Spaß gemacht, und sie hatte schnell und gut gelernt. Sie hatte studiert und ihr Lehrerstudium abgeschlossen. Mit siebenundzwanzig war sie bereits seit über vier Jahren Lehrerin.
Und eine gute Lehrerin dazu, dachte sie jetzt, während sie vor dem Kamin an ihrem Tee nippte. Sie hatte ein untrügliches Gespür für die Talente und Schwächen ihrer Schüler, wusste sofort, wie sie sie an Lerninhalte heranführen musste, um ihr Interesse zu wecken, um sie herauszufordern und zu fördern.
Und doch zögerte sie es immer wieder hinaus, ihren Doktortitel zu machen. Jeden Morgen wachte sie irgendwie unbefriedigt auf und kam abends genauso unerfüllt wieder nach Hause.
Weil sie nie wirklich mit dem Herzen dabei gewesen war.
Als Rowan das denjenigen, die sie liebten, zu erklären versucht hatte, waren alle wie erschlagen gewesen. Ihre Schüler verehrten sie, die Schulverwaltung hielt große Stücke auf sie. Warum beendete sie nicht ihre Dissertation, heiratete Alan und führte das nette, angesehene Leben, das ihr zustand und das sich gehörte?
Ja, warum eigentlich nicht, fragte sie sich jetzt selbst. Weil die einzige Antwort, die sie hatte, für sich und die anderen, in ihrem Herzen lag.
Aber zum Grübeln war sie nicht hergekommen, sondern zum Nachdenken, erinnerte sie sich. Sie würde einen kleinen Spaziergang machen, sich ein wenig umsehen, die Gegend auskundschaften. Sie wollte die Klippen sehen, von denen Belinda ihr so viel vorgeschwärmt hatte.
Aus reiner Gewohnheit schloss sie die Tür ab und atmete tief die würzige Meeresluft ein. Das schnell dahingekritzelte Bild von der Landschaft, das Belinda für sie gezeichnet hatte, tauchte wieder vor ihr auf, und so schlug Rowan, ihre Unsicherheit ignorierend, den Pfad in westlicher Richtung ein.
Sie hatte noch nie außerhalb der Stadt gelebt. In San Francisco großzuwerden hatte sie nicht auf die schier endlose Weite der Wälder Oregons vorbereitet, auf die Gerüche, auf die verschiedenen Laute. Und doch wich ihre Nervosität langsam, machte Platz für das Erstaunen über die wunderbare Natur.
Es war wie ein Buch, eine unglaublich reiche Story, angefüllt mit Farben und Texturen. Die gigantischen Douglasfichten, unter deren ausladenden Ästen Rowan wandelte, ließen das Sonnenlicht auf den Waldboden fallen, der mit dickem dunkelgrünem Moos
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