Die Donovans 4: Der verzauberte Fremde
bewachsen war. Im Schatten der Bäume war es kühler, das würzig-herbe Aroma erfüllte die Luft. Farne wuchsen zwischen den Wurzeln, manche kräftig und gerade wie Schwerter, andere feingliedrig und filigran. Wie Elfen, dachte Rowan mit einem Anflug von Romantik, die nur bei Nacht tanzen.
Der Fluss schlängelte sich dahin, das Wasser ergoss sich fröhlich murmelnd über Kiesel und Steine, fiel dann donnernd und rauschend über eine Ansammlung von Felsbrocken und bildete weißen Schaum, der sich im weiteren Verlauf wieder auflöste. Rowan ließ sich von der Musik des Windes führen.
Etwas weiter flussaufwärts gab es eine Biegung, das wusste Rowan, und dort würde ein alter Baumstumpf stehen, der an das Gesicht eines alten Mannes erinnerte. Fingerhut wuchs hier, im Sommer würden die Stauden hoch und stark werden und in ihrer violetten Blütenpracht prangen.
Ein guter Platz, um sich hinzusetzen und auszuspannen, dem Wald dabei zuzusehen, wie er zu neuem Leben erwachte.
Erstaunt blieb sie stehen, als sie um die Biegung kam und der alte Baumstumpf mit der rissigen Rinde tatsächlich wie das Gesicht eines alten Mannes aussah. Woher hatte sie gewusst, dass es so sein würde? Sie rieb sich mit dem Handballen über die Brust, dort, wo ihr Herz plötzlich schneller schlug. Das war nicht auf Belindas Zeichnung gewesen, wie also hatte sie das wissen können?
„Weil Belinda es bestimmt irgendwann mal erwähnt hat. Sie hat’s mir erzählt, das ist es. Denn es ist genau die Art von Detail, die sie mir beschreiben und die ich sofort wieder vergessen würde.“
Doch Rowan setzte sich nicht hin, beobachtete nicht, wie der Wald um sie herum zu Leben erwachte. Irgendwie schien er schon lebendig zu sein.
Verzaubert, dachte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Zauberwald, von dem jedes kleine Mädchen träumt, wo Elfen und Feen tanzen und der junge Prinz darauf wartet, die schöne Prinzessin aus den Klauen der bösen Hexe oder des bösen Zauberers zu befreien.
Hier gab es nichts, wovor sie Angst haben müsste. Dieser Wald war ihrer, solange sie es wollte. Hier gab es niemanden, der tadelnd den Kopf schüttelte, wenn sie wieder einmal ihren Tagträumen nachhing, sich in einer Märchenwelt verlor. Ihre Träume gehörten auch ihr.
Wenn sie einem kleinen Mädchen eine Geschichte erzählen wollte, so würde es eine Geschichte über einen verwunschenen Wald sein. Und den Prinzen, der darin umherirrte, auf der Suche nach der einen, der wahren Liebe. Natürlich war der Prinz verzaubert, er war gefangen in der Form eines schlanken, kräftigen schwarzen Wolfes. Bis die schöne Maid kam und ihn von dem Fluch befreite, mit ihrem Mut, ihrer Klugheit und mit ihrer Liebe.
Rowan seufzte. Sie wünschte, sie hätte das Talent zum Geschichten erzählen. Die Themen flogen ihr nur so zu, aber die Details … Sie konnte sie nie ausarbeiten, um eine spannende Geschichte zu erfinden und sie in allen Einzelheiten zu erzählen.
Deshalb las sie und bewunderte diejenigen, die diese Fähigkeit besaßen.
Sie vernahm leises Meeresrauschen, wie der Nachhall einer Erinnerung, und schlug ohne zu zögern den linken Pfad der Weggabelung ein. Was erst wie ein Flüstern geklungen hatte, wurde zu einem gewaltigen Donnern, und Rowan beschleunigte ihre Schritte. Fast rannte sie, als sie aus dem Wald hervorbrach und die Klippen erblickte.
Die festen Wanderstiefel klickten hart auf den Felsen, als sie die Klippen erklomm. Der Wind zerrte und riss an dem, was von ihrem Zopf noch übrig war, und schon bald flatterte ihr Haar offen und frei und lang. Lachen brodelte in ihr, quoll über, aus ihrer Kehle, voller Entzücken, als sie atemlos oben auf den Klippen stand.
Es war mit Abstand der überwältigendste Anblick, den sie je gesehen hatte. Der endlose blaue Ozean, gesäumt von weißen Schaumkronen, wenn das Wasser sich mit Wucht an den Felsen brach. Die Nachmittagssonne tauchte die Szenerie in goldenes Licht, durchsetzte die blaue Fläche mit funkelnden Lichtdiamanten.
In der Ferne erkannte sie Boote und Schiffe, die den Wellen trotzten, und eine vorgelagerte kleine Insel, die wie eine geballte Faust aus dem Wasser ragte.
An den Felsen unter ihr konnte sie schwarz schimmernde Miesmuscheln hängen sehen, und als sie genauer hinblickte, bemerkte sie ein Vogelnest, das in eine kleine Nische gebaut worden war. Vorsichtig ließ sie sich auf den Bauch nieder und wurde dafür mit dem Anblick von Vogeleiern belohnt.
Rowan stützte das Kinn auf die Hände und sah
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