Die Doppelgängerin
öffnen.
Schon wollte Inge sie weglegen. Doch dann ging es doch, und sie legte die
Schachtel mit zwölf — garantiert frischen — Landeiern vorsichtig hinein.
„Nanu, da ist ein Brief drin.“
Sie zog ihn heraus.
Ein Brief, fand Gaby, sei das nicht,
nur ein viermal gefalteter Zettel aus dem gleichen Papier wie die Tüte. Mit
Bleistift war vermerkt: AN SIE! Die Buchstaben waren ungelenk und taumelten
nach links, als wollten sie polastig Limbo tanzen. Ein Leimtupfer hielt den
Zettel zusammen.
„Hm!“ Inge warf ihn achtlos auf den
Tisch.
Während sie den Rest einpackte, nahm
Gaby den Zettel.
„Ich bin nun mal neugierig.“
„Ich ja auch. Aber laß ihn uns draußen
ansehen. Hier wird’s gleich eng.“
Das stimmte. Hinter den Kassen hatten
sich Schlangen ungeduldiger Kundinnen gebildet.
Mit Tüten und Zettel gingen die beiden
Mädchen zu ihren Stahlrossen.
Inge verstaute den Einkauf in dem Korb,
der auf ihrem Gepäckträger befestigt war.
Gaby löste den Leimtupfer und
entfaltete den Zettel.
Daß es sich um die Mitteilung eines
Spaßvogels handele, hatte sie erwartet. Doch es war etwas anderes — ein Brief
an UNBEKANNT, kritzelig, obschon gut leserlich, mit Bleistift geschrieben.
Sie schoben die Köpfe zusammen und
konnten gleichzeitig lesen.
An UNBEKANNT!
Sie werden denken, diese Mitteilung sei
ein Scherz oder eine Lüge. Aber es ist die Wahrheit. Mein Name tut nichts zur
Sache. Ich bin Gefängnisinsasse — seit drei Jahren — und verbringe meine Tage mit Tütenkleben. Diese
Packtüten, die für Supermärkte hergestellt werden, stammen aus der Haftanstalt.
Das gibt mir Gelegenheit, einen Kassiber (heimliches Schreiben an Gefangene
oder von Gefangenen) rauszuschmuggeln.
Mit dieser Mitteilung halten Sie — Leser oder Leserin — den
Schlüssel zu einem Vermögen in der Hand. 400 000 Mark warten auf Sie. Es
handelt sich um zwei Briefmarken. Beim Einbruch in die Villa eines Millionärs
habe ich sie vor drei Jahren erbeutet — zusammen mit einem Kumpel. Es
sind die beiden „Mauritius von 1898 auf einem Kuvert“. Damals versteckten wir
diesen Schatz, um in Ruhe einen geeigneten Käufer dafür zu suchen. Aber die
Polizei griff uns auf, und wir wurden wegen anderer Delikte verurteilt. Ich muß
noch zwei Jahre absitzen, aber mein Kumpel wird am 20.6. entlassen. Daß wir die
Briefmarken haben, weiß außer uns niemand.
Früher war Edwin ein Kumpel. Heute ist
er ein Lump. Er hat seinen wahren Charakter gezeigt, mich mehrfach verzinkt
(verraten), sich bei den Wachleuten eingeschmiert — und das immer auf meine Kosten.
Ich wünsche ihm die Pest an den Hals. Doch wenn dieser Zettel unentdeckt
bleibt, oder wenn Sie nicht handeln — wird nicht die Pest auf ihn warten,
sondern die 400 000-Mark-Beute. Ich weiß, daß er sie sofort aus dem Versteck
holen und verscherbeln wird. Keine müde Mark bleibt dann für mich. Doch ihm, diesem
Hund, gönne ich nichts — nicht mal seinen rechtmäßigen Anteil.
„Der schreibt tatsächlich rechtmäßig’“, stieß Gaby atemlos
hervor. „Der denkt: was ich klaue — darauf habe ich auch Anspruch.“
„Lies... lies... doch weiter!“
stotterte Inge.
Deshalb — so fuhr der Schreiber fort — überlasse
ich die Beute lieber Ihnen als ihm. Handeln Sie! Holen Sie sich Ihr Glück!
Liefern Sie es bei der Polizei ab, wenn Sie dumm sind. Aber kommen Sie Edwin
zuvor!
Die Briefmarken befinden sich in der
Landeshauptstadt, wo wir sie damals auch erbeutet haben. In der
Bleibetreu-Straße gibt es die Pension Waberina. Im Bad von Zimmer 17 — unmittelbar
unter dem Waschbecken — haben wir eine Kachel gelöst. Hinter ihr befindet sich
eine Klarsichthülle mit den Briefmarken. Es handelt sich um eine braungeflammte
Kachel, auf die ich damals mit meinem Diamantring ein kleines X geritzt habe.
Viel Glück!
Der Brief trug keine Unterschrift. Aber
hinter das Ausrufungszeichen war ein Herzchen gemalt.
Gaby blies gegen ihren Pony, atmete
tief durch, schüttelte den Kopf und war seit langem zum ersten Mal sprachlos.
Als sie Inge ansah, fand sie die
Sprache wieder. „Also, das... He! Ist dir nicht gut, Inge? Du bist ja kalkweiß.“
Inge zitterte. Mit einer Hand hielt sie
ihr Rad. Das wackelte so heftig, daß die Konserven im Einkaufskorb schepperten.
„Gaby!“ flüsterte sie. „Ich werde
ohnmächtig!“
„Tu mir das nicht an! Ich habe nicht
mal ein Riechfläschchen. Komm, setz dich!“
Sie hielt Inges Rad. Inge setzte sich
auf den Boden und legte den Kopf auf die
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