Die Dornenvögel
Meggie männliche Umarmungen gewohnt.
Noch nie hatte er eine Frau als Liebhaber geküßt, und er dachte auch jetzt nicht daran, das zu tun. Erwartete Meggie einen solchen Kuß von ihm? Nein. Nein, wohl nicht. Schon weil es sie tief verletzt haben mußte, als er ihr gesagt hatte, sie solle ihn aus dieser Art von romantischen Träumen ein für allemal streichen. Also was? Nun, ein flüchtiger Hauch auf ihre Wange - so wie zweifellos ihr Vater es bei einem Abschied von ihr halten würde.
Er beugte den Kopf tiefer. Im selben Augenblick reckte sie sich zu ihm empor. Und so fügte es eher der Zufall, daß beider Lippen einander berührten. Für eine Sekunde zuckte er zurück, als habe er vom Gift der Spinne gekostet. Doch sofort beugte er sich wieder zu Meggie, flüsterte etwas dicht an ihrem süßen, geschlossenen Mund, und um zu antworten, öffnete sie die Lippen. Plötzlich wirkte ihr Körper wie knochenlos. Er schien zu zerfließen: etwas, das gleichsam dahinschmolz, warm und dunkel.
Der eine Arm des Priesters war jetzt um ihre Taille geschlungen. Der andere schob sich über ihren Rücken, zwischen die Schulterblätter, und die gewölbte Hand schmiegte sich um Meggies Hinterkopf, die Finger tief im weichen Haar. So hielt er sie, hielt sie, als fürchte er, sie zu verlieren, noch bevor er ihre Nähe richtig in sich aufgenommen hatte, diese so unmittelbare Gegenwart, die Meggie war. Meggie, ja - und doch: Meggie nicht. Zu fremdartig, völlig unvertraut. Denn seine Meggie war keine Frau, seine Meggie besaß für ihn nicht den Körper eines Weibes, seine Meggie konnte ihm ebensowenig je ein Weib sein wie er für sie ein Mann. Dieser Gedanke ließ ihn wieder zu sich kommen. Rasch löste er sich aus Meggies Umarmung, schob sie ein Stück zurück, versuchte in der Dunkelheit ihr Gesicht zu erkennen. Doch sie hielt ihren Kopf jetzt gesenkt, sah ihn nicht an.
»Es wird Zeit, daß wir zurückreiten, Meggie«, sagte er.
Ohne ein Wort ging sie zu ihrem Pferd, saß auf und wartete dann auf ihn. Sonst war immer er es gewesen, der auf sie wartete.
Pater Ralph hatte recht gehabt. Das ganze Haus war von Rosen wie überschwemmt. Um diese Jahreszeit blühten sie auf Drogheda besonders üppig, und man hatte die Gärten geradezu geplündert. Soweit war alles für den Empfang der Trauergäste vorbereitet, die - etwa um acht Uhr - denn auch einzutreffen begannen. Im kleinen Speisezimmer konnte jeder ein leichtes Frühstück einnehmen, Kaffee und frische Brötchen mit Butter.
Nach der Bestattung würde es etwas Herzhafteres als Wegzehrung geben, und einen weiten, zum Teil sehr weiten Weg hatten sie ja alle.
Gar kein Zweifel: inzwischen war man »im Bilde«, inzwischen wußte man »Bescheid«, inzwischen hatte man sich »einweihen« lassen. Während von geübten Lippen konventionelle Floskeln tropften, spähten zudringliche Augen, spekulierten wache, wie lauernde Gehirne. Was mochte es wohl auf sich haben mit dieser sonderbaren Geschichte von dem Testament, die einem da zu Ohren gekommen war?
»Wie ich höre, werden wir Sie verlieren, Pater«, sagte Miß Carmichael spitz.
Wohl noch nie hatte er so distanziert gewirkt, so über allen menschlichen - allzu menschlichen - Gefühlen stehend, wie an diesem Morgen. Er trug die spitzenlose Albe und die stumpfschwarze Kasel mit Silberkreuz. Nur körperlich schien er anwesend zu sein, während sein Geist in völlig anderen Regionen weilte. Und so war es dann geradezu wortwörtlich zu nehmen: daß der Priester Miß Carmichael abwesend anblickte.
Doch die Heiterkeit, mit der er die junge Dame musterte, war echt, war zweifellos tatsächlich empfunden.
»Gott geht seltsame Wege, Miß Carmichael«, sagte er und ließ sie stehen, um zu anderen Trauergästen zu treten.
Woran er dachte, was ihn jetzt innerlich beschäftigte, konnte niemand ahnen. Es war die bevorstehende Konfrontation mit Paddy, wegen des Testaments. Mit eigentümlich widersprüchlichen Gefühlen sah er ihr entgegen. Einerseits fürchtete er sich davor, Paddys Gefühlsausbruch miterleben zu müssen, andererseits brauchte er eben dies: Paddys Zorn und Verachtung.
Bevor er die Totenmesse begann, wandte er sich der Trauergemeinde zu. Die Anwesenden füllten den Raum bis auf den letzten Platz, und es roch so stark nach Rosen, daß ihr schwerer Duft trotz der geöffneten Fenster kaum noch frische Atemluft übrigzulassen schien. »Ich möchte mich auf wenige Worte beschränken«, sagte er mit klarer Stimme und in fast reinem
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