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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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Margaret oder Betty?« »Weil sie Agnes ist!«
    Hughie sah, daß es eine Gliederpuppe war. Er stieß einen Pfiff aus. »He, Jack, sieh mal! Die kann den Arm bewegen, sogar die Hand!« »Wo? Laß mal sehen.«
    »Nein!« Wieder preßte Meggie die Puppe an sich. In ihren Augen zeigten sich Tränen. »Nein, ihr macht sie kaputt! Oh, Jack, laß sie mir doch - sie zerbricht!«
    »Pah!« Seine schmutzigen, braunen Finger schlossen sich fest um ihr Handgelenk. »Soll ich dir tausend Stecknadeln verpassen? Und sei bloß nicht so eine Heulsuse, sonst erzähle ich’s Bob.« Weißlich spannte sich ihre Haut unter seinen hart quetschenden Fingern. Hughie packte die Puppe beim Kleid und zog. »Gib schon her, sonst mach’ ich mal Ernst!« sagte Jack. »Nein, nicht! Bitte, Jack, nicht! Du machst sie bestimmt kaputt! Laß sie mir doch! Nimm sie mir nicht weg, bitte!« Trotz seines harten, schmerzenden Griffs hielt sie die Puppe noch immer umklammert, versuchte, sich zu wehren, schluchzend, strampelnd. »Hab’ sie!« schrie Hughie triumphierend, als es ihm gelang, Meggie die Puppe zu entwinden.
    Die beiden Jungen fanden Agnes nicht weniger faszinierend, als Meggie sie gefunden hatte. Im Handumdrehen hatten sie die Puppe ausgezogen. Nackt lag sie vor ihnen, und die Jungen zogen und zerrten an ihr herum - ließen sie gliederverrenkende akrobatische Kunststücke vorfuhren: ein Bein mit dem Fuß hinter dem Kopf; dann der Kopf brutal ins Genick gedreht; anderes mehr. Meggie stand weinend, doch ihre Brüder beachteten sie nicht weiter. Und Meggie selbst dachte nicht daran, zu irgend jemandem um Hilfe zu laufen. Wer sich in der Cleary-Familie nicht aus eigener Kraft behaupten konnte, der durfte kaum mit Hilfe oder gar Mitgefühl rechnen.
    Das galt auch für Mädchen.
    Das hochgetürmte Goldhaar der Puppe fiel über ihre Schultern herab. Die winzigen Perlen versprühten gleichsam im hohen Gras, waren nicht mehr zu sehen. Ein schmutziger Schuh trat absichtslos auf das herumliegende Kleidchen. Dreck aus der Schmiede haftete jetzt auf dem Satin. Meggie ließ sich auf die Knie fallen und kroch verzweifelt umher, um die Puppenkleidung vor schlimmerem Schaden zu bewahren. Dann tastete sie unter den hohen Grashalmen nach den winzigen Perlen.
    Vor Tränen konnte sie nichts sehen, und was sie empfand, was ihr fast buchstäblich das Herz zerriß, war für sie ein völlig neues Gefühl: Bis jetzt hatte sie noch nie etwas besessen, dessen Verlust es wert gewesen wäre, daß man darum trauerte.
    Frank steckte das Hufeisen in kaltes Wasser. Es zischte, und er richtete sich auf, straffte den Rücken. Tat gar nicht mehr weh nach all dem Krummstehen. Es schien also, daß er sich jetzt doch an die Arbeit in der Schmiede gewöhnt hatte. Würde auch allmählich Zeit, hätte sein Vater bestimmt gesagt: nach rund einem halben Jahr. Aber Frank brauchte keinen, der ihm ins Gedächtnis rief, wie lange es her war, daß er ins Joch von Esse und Amboß geriet. Er hatte die Zeit gemessen, sehr genau, wenn auch weniger in Tagen und Wochen als in Haß und Zorn.
    Er warf den Hammer in seinen Kasten, schob sich mit zitternder Hand das glatte, schwarze Haar aus der Stirn und band sich den alten Lederschurz ab. Sein Hemd lag in der Ecke auf einem Haufen Stroh. Mit schweren Schritten ging er darauf zu, stand dann sekundenlang und starrte auf die stellenweise zerborstene Schuppenwand, als ob sie gar nicht vorhanden wäre.
    Er war klein, nur knapp über einssechzig, und so dünn, wie junge Burschen es häufig sind. Doch auf den Schultern und an den Armen zeigten sich bereits deutlich erkennbare Muskelpartien. Zweifellos hatte die harte Arbeit mit dem Hammer dafür gesorgt. Auf seiner hellen, sehr reinen Haut glänzte Schweiß. Dunkel wie seine Haare waren auch seine Augen, und das gab ihm irgendwie einen fremdländischen Einschlag. Weder seine vollen Lippen noch die recht breite Nase gehörten zu den üblichen Familienmerkmalen. Von der Seite seiner Mutter her floß in seinen Adern Maori-Blut, und das schlug durch. Er war fast sechzehn Jahre alt, während Bob kaum elf war, Jack zehn, Hughie neun, Stuart fünf und die kleine Meggie drei. Aber halt, das stimmte nicht mehr. Ihm fiel ein, daß Meggie heute, am 8. Dezember, vier geworden war. Er schlüpfte in sein Hemd und verließ den Schuppen. Das Haus, auf einem kleinen Hügel gelegen, befand sich etwa dreißig Meter oberhalb der Stallungen, den Schuppen mit eingeschlossen. Es war so wie fast alle Häuser auf Neuseeland: an

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