Die Dornenvögel
Oxford-Englisch, mit dem schwachen Anklang irischer Dialektfärbung. »Sie alle haben Mary Carson gekannt. Eine Stütze der Gesellschaft und eine Stütze der Kirche, die sie mehr liebte als irgendeinen Menschen.«
An dieser Stelle, so behaupteten einige der Anwesenden später, habe sich in seinen Augen unverhohlener Hohn gezeigt. Andere hingegen versicherten mit dem gleichen Nachdruck, aus seinen Blicken habe nichts gesprochen als aufrichtige Trauer.
»Eine Stütze der Kirche, die sie mehr liebte als irgendeinen Menschen«, wiederholte er, und seine Stimme klang womöglich noch deutlicher, noch klarer. »In ihrer letzten Stunde war sie allein und war dennoch nicht allein. Denn in der Stunde unseres Todes ist unser Herr Jesus Christus bei uns, ist in uns, trägt die Last unserer Schmerzen. Kein Wesen, ob hoch oder niedrig, stirbt allein, und der Tod ist süß. Wir sind hier versammelt, um für ihre unsterbliche Seele zu beten, damit ihr, die wir im Leben liebten, der gerechte und ewige Lohn zuteil werde. Lasset uns beten.«
Der rasch zusammengezimmerte Sarg war so mit Rosen bedeckt, daß man das rauhe Holz nicht sehen konnte. Er stand auf einem niedrigen Untersatz, einer Art Karren, den die Cleary-Söhne gleichfalls in aller Eile aus den verschiedensten Einzelteilen zusammengebaut hatten. Trotz der weitgeöffneten Fenster und trotz des Rosendufts roch man es, roch es ganz deutlich und unverkennbar, roch man sie. Auch der Arzt hatte den Mund nicht halten können, nicht halten wollen. »Als ich auf Drogheda eintraf«, hatte er am Telefon zu Martin King gesagt, »war sie schon so stark verwest, daß mir buchstäblich übel wurde. Noch nie im Leben hat mir jemand so leid getan wie Paddy Cleary. Nicht nur, weil er um seine Erbschaft - um
Drogheda - gekommen ist, sondern weil er zu allem auch noch diesen stinkenden Brei in den Sarg tun mußte.« »Dann denke ich nicht daran, mich als Sargträger zur Verfügung zu stellen«, war Martin Kings Antwort gewesen.
Daher der Karren, auf dem der Sarg stand. Niemand zeigte sich bereit, das Behältnis mit Mary Carsons sterblichen Überresten zu schultern, um es über die Rasenfläche hinweg zum Friedhof zu tragen. Und als sich die Tür des Grabgewölbes endlich schloß, waren alle froh, wieder frische, gleichsam unbesudelte Luft atmen zu können.
Während die übrigen Trauergäste sich im großen Speisezimmer mit ein paar Bissen stärkten, oder zumindest so taten, ging Harry Gough mit Paddy und dessen Familie, mit Pater Ralph, Mrs. Smith und den beiden Dienstmädchen in den Salon. Und eben deshalb dachten die anderen Trauergäste keineswegs daran, schon jetzt aufzubrechen. Sie wollten Paddys Gesicht sehen, wenn er, nach der Testamentseröffnung, wieder aus dem Salon kam. Noch wußte er ganz unverkennbar nichts, und alle waren darauf bedacht gewesen, sich nicht das mindeste anmerken zu lassen. Seiner gutherzigen Art entsprechend, hatte er um seine Schwester geweint, während Fee so war, wie man sie kannte: ungerührt, als ginge sie das alles nichts an. »Paddy, ich möchte, daß Sie’s anfechten«, sagte Harry Gough, nachdem er das Testament mit harter, empörter Stimme verlesen hatte.
»Diese gemeine alte Hexe!« murmelte Mrs. Smith. Sie mochte den Priester zwar, doch waren ihr die Clearys ganz entschieden lieber. Ihnen verdankte sie, daß es in ihrem Leben gab, wonach sie sich so gesehnt hatte - Kinder.
Paddy schüttelte den Kopf. »Nein, Harry! Das könnte ich nicht. Es war doch ihr Besitz, ihr Vermögen, nicht wahr? Also hatte sie auch das Recht, damit zu tun, was sie wollte. Wenn es ihr Wille war, daß es an die Kirche fällt, so gibt es daran nichts zu deuteln. Natürlich fühle ich mich ein bißchen enttäuscht, das gebe ich zu. Aber ich bin nur ein ganz einfacher Mensch, und vielleicht ist es deshalb so das beste. Wäre mir gar nicht so recht, für einen Besitz von der Größe von Drogheda die Verantwortung tragen zu müssen.« »Sie verstehen nicht ganz, Paddy!« sagte der Rechtsanwalt so langsam und deutlich, als spräche er zu einem Kind. »Es geht doch nicht nur um Drogheda. Die Station bildet im Gesamtvermögen, das Ihre Schwester hinterlassen hat, nur einen Teil, und zwar einen relativ kleinen Teil, glauben Sie mir. Sie ist Hauptaktionärin bei hundert überaus profitablen Unternehmen, ihr gehören Stahlwerke und Goldminen, sie ist Inhaberin von Michar Limited, mit einem zehnstöckigen Bürogebäude in Sydney. Ich meine natürlich, sie war’s. Sie war reicher
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