Die Drachen Der Tinkerfarm
»Das ist ja der totale Wahnsinn!«
Lucinda musste gegen den starken Drang ankämpfen, auf ihr Zimmer zu rennen und den Kopf unters Kissen zu stecken, bis das ganze Problem sich von selbst erledigt hatte. Ihr Bruder war soeben in einen Spiegel gesprungen? Was kam als nächstes? Sie kniff fest die Augen zu und konnte sich mit Mühe beherrschen, nicht um Hilfe zu schreien.
Ich will nur noch nach Hause. Ich will nichts weiter mehr als nach Hause. Sie wollte in ihrem eigenen Zimmer schlafen und ihre Freundinnen besuchen. Sie wollte ihre Kopfhörer aufsetzen und normale Musik hören und über Jungen und Fernsehen und was in der Schule los war nachdenken. Keine Monster. Keine Zauberspiegel.
Doch als sie die Augen wieder aufschlug, starrten Alma und Carmen sie zu Tode erschrocken an, sichtlich mit der Erwartung, dass sie etwas tat. Da begriff Lucinda, dass sie diesmal nicht weglaufen und sich verstecken konnte.
»Keine Bange«, beruhigte sie die beiden. »Tyler weiß, was er macht.« Eins nach dem andern, Lucinda, sagte sie sich. »Ihr seid also deshalb mitten in der Nacht herübergekommen, weil wir uns auf eure Anrufe hin nie gemeldet haben?«
Carmen sah ihre völlig verängstigte kleine Schwester an und fasste einen Entschluss. Sie holte tief Luft, und als sie antwortete, klang sie nicht mehr, als ob sie gleich durchdrehen würde. »Wir … wir haben x-mal angerufen. Und jedes Mal war diese Engländerin dran und hat gesagt, ihr könntet gerade nicht rangehen oder ihr wärt beschäftigt, immer irgendwas. Aber ihr habt nie zurückgerufen, und unsere Oma hat immer nur mit dem Kopf genickt, als hätte sie es eh schon geahnt, und wir haben uns gefragt, ob ihr vielleicht krank seid oder so. Nach einer Weile haben wir uns ernsthaft Sorgen gemacht.«
Alma nickte. »Und dann dieser Hubschrauber heute Abend. Steve meinte, es wäre vielleicht ein Sanitätshubschrauber, und sie wollten euch heimlich in ein Krankenhaus schaffen.«
»Ich habe ihm gesagt, dass das Blödsinn ist«, sagte Carmen, »aber er wollte unbedingt nachgucken. ›Ich geh rüber, egal was ihr macht!‹, und so weiter. Da sind wir schließlich mit.«
Lucinda fasste das Mädchen an der Hand. »Moment mal, was für ein Hubschrauber?«
»So ein großer – richtig groß, aber ganz leise. Er ist ungefähr eine Stunde nach Dunkelwerden direkt an unserem Haus vorbeigeflogen, und Steve und ich haben ihn gesehen«, erklärte Carmen. »Eine Weile hat er fast ohne alle Lichter über der Grenze zu euch gestanden, aber dann ist er weitergeflogen und gelandet, glaube ich. Es war nicht so genau zu erkennen.«
Lucinda schwante nichts Gutes. Ein großer Hubschrauber? Das mussten die Leute sein, vor denen Walkwell und Ragnar die Farm schützten – wie dieser Mann, den sie an der Junction Road geschnappt hatten und der angeblich für einen gewissen Stillman arbeitete. Aber ein Hubschrauber, der spät nachts auf der Farm landete?
Sie musste dringend etwas unternehmen.
»Hört zu«, sagte sie zu Carmen und Alma. »Ich muss den andern Bescheid sagen, was ihr gesehen habt. Ihr zwei dürfteuch auf keinen Fall blicken lassen, auf gar keinen Fall! Vertraut mir. Bleibt einfach hier und wartet, bis Tyler mit Steve zurückkommt. Er wird zurückkommen – alle beide.« Doch während sie das sagte, spürte sie einen kalten Druck in der Brust, eine so tiefe Angst wie an dem Tag, als ihr Papa ihnen erklärte, dass er ausziehen würde. Sie blickte in den dunklen Spiegel, in dem im Moment nichts zu sehen war als eine im Schatten liegende Wand. Wohin war ihr Bruder gegangen? Was passierte in diesem Augenblick mit ihm?
»H-hier bleiben?«, sagte Carmen. »Ganz allein? Spinnst du?«
»Glaubt mir«, sagte Lucinda, »es wird hier wesentlich ruhiger und ungefährlicher sein als überall sonst.«
Die kleine Alma nickte ernst. Ihre Tränen waren getrocknet, und sie schien sich gefangen zu haben. »Schon gut, Carmen«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Wir warten hier, Lucinda. Geh nur.«
Lucinda drehte sich um und lief, was sie konnte.
Nur Sarah, Azinza und Pema waren noch in der Küche. Sie spülten gemütlich das letzte Geschirr und trafen Vorbereitungen für das Frühstück am nächsten Morgen.
»Wieso bist du noch so spät auf, Kind?«, fragte Sarah. »Und was willst du von Ragnar? Er ist zum Krankenstall gegangen, glaube ich. Die Drachin ist heute wieder sehr schwierig.«
»Sie hat ihr Junges verloren«, sagte Azinza in ihrer herrschaftlichen Art. »Da ist sie natürlich
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